Die Ungehorsame Historischer Roman
Kinder fand, waren sie ausgemergelte Gespenster mit dunklen Ringen unter den übermüdeten Augen. Sie arbeiteten bereits mit sechs Jahren vierzehn Stunden am Tag in einer Baumwollspinnerei. Dabei erhielten sie morgens einen dünnen Brei, mittags einen Kanten Brot und abends noch einmal eine dürftige Suppe. Ich ließ sie dort herausholen und bei einem Brillenmacher als Dienstboten unterbringen. Doch auch dort waren sie nicht in so guten
Händen, wie ich es mir wünschte. Darum sind sie jetzt hier, und darum, Madame, werden sie hier bei uns nicht hungern. Haben Sie mich verstanden, Madame?«
»Natürlich, Herr Mansel.« Leonie war ehrlich betroffen, sie wusste tatsächlich sogar eine ganze Menge über die Zustände in den Heimen und hatte selbst oft genug für Speisung und Bekleidung der Kinder gesorgt. »Vielleicht hätten Sie mich auf diesen Umstand hinweisen sollen. Selbstverständlich bekommen die Kinder ihr Abendessen.«
»Und sie werden auch diese Devotionalien zurückerhalten, Madame!«
»Nein. Ich dulde in meinem Haus keine abergläubische Heiligenverehrung und keine Rosenkranz-Salbaderei!«
»Sprach die jüngst Konvertierte. Es ist mir schon oft aufgefallen, dass bekehrte Sünder die frömmsten und geläuterte Verbrecher die rechtschaffensten Fanatiker abgeben. Seien Sie nicht protestantischer als Luther selbst, Madame.«
Leonie sah die beiden Kinder in der Tür stehen und mit großen Augen lauschen. Leise zischte sie: »Sie beleidigen mich, Herr Mansel! Und das vor den Kindern.«
Er drehte sich um und winkte die zwei kurz entschlossen herbei.
»Erklärt der gnädigen Frau, warum ihr diese Dinge zurückhaben wollt!«
»Ja, gnädiger Herr.« Ursel war die mutigere der beiden, und während Lennard noch seine Finger krampfhaft verschränkte, hob sie die Augen und sah Leonie offen an. »Gnädige Frau, die Sachen haben unserer Mama gehört. Es ist das Einzige, was wir noch von ihr haben. Sie hat zu Mutter Maria gebetet, und niemand hat etwas Schlechtes darin gesehen.«
Leonie nickte. Vor vielen Jahren, als sie noch an Wunder glauben konnte, hatte sie selbst zu der heiligen Jungfrau gebetet und darin Trost gefunden. Mit einem Teil ihres Wesens konnte sie die Kinder verstehen.
»Herr Mansel, ich fühle mich überfordert, den Kindern die rechte religiöse Unterweisung zu geben. Ich muss Sie bitten, sich selbst darum zu kümmern. Ich will ihnen natürlich nicht die Erinnerungsstücke an ihre Mutter vorenthalten. Nehmt sie also wieder an euch, Ursel.«
»Danke, gnädige Frau!«
Hendryk Mansel reichte ihnen die drei Gegenstände und sagte in freundlichem Tonfall: »So, ihr zwei, jetzt lauft in die Küche. Wenn ich es vorhin richtig gerochen habe, ist da gerade ein Kuchen fertig gebacken worden.«
Ursel und Lennard verschwanden, und Leonie saß, wie üblich, mit sittsam im Schoß ruhenden Händen vor ihm.
»Ich appelliere an Ihr Verständnis, Frau Mansel. Die Kinder haben schon früh ihre leibliche Mutter verloren und suchen in ihrer Verehrung der Maria eine Art Ersatz. Natürlich werden sie nach und nach an den protestantischen Glauben herangeführt werden müssen, doch sie brauchen derzeit noch ein wenig Trost aus ihrem kindlichen Glauben. Ich hatte die Hoffnung, in Ihnen eine Hilfe zu finden, indem Sie ihnen etwas mütterliche Gefühle entgegenbringen. Aber darin habe ich mich offensichtlich getäuscht.«
Die Entgegnung kam wie ein Peitschenschlag.
»Wenn Sie eine Mutter für Ihre Abkömmlinge suchten, Herr Mansel, dann hätten Sie mir die beiden nicht als Dienstboten vorstellen sollen! Und eine kleine Aufklärung über die mir zugedachte Rolle, vor der Eheschließung, wäre auch wünschenswert gewesen!«
Er bekam einen kalten Blick in sein sichtbares Auge, als er erwiderte: »Sie unterstellen mir tatsächlich, ich würde Ihnen meine - wie nennen Sie es? Abkömmlinge? - unterschieben? Madame, das ist geschmacklos!«
»Tatsächlich? Und Ihr Verhalten entspricht vollends dem guten Ton?«
Kochend vor Wut stürmte Hendryk Mansel aus dem Raum und ließ eine leise knurrende Leonie im Wintergarten zurück.
Sie war wütend auf sich selbst, dass sie sich derart hatte gehen lassen. Entschlossen raffte sie ihre Röcke zusammen und lief die Treppen hinunter, um einige Schritte im Garten zu tun. Sie brauchte frische Luft und Bewegung.
Dort, zwischen den Blumenrabatten, beruhigte sie sich allmählich wieder. Gut, sie hatte die Kinder nicht sehr freundlich behandelt, das mochte wohl stimmen. Ihrer jüngeren
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