Die Ungehorsame Historischer Roman
Schwester Rosalie, dem Nachkömmling in ihrer Familie, war sie ebenfalls immer sehr distanziert begegnet, weil sie ihr immer fremd geblieben war. Mütterlichkeit,
die Mansel von ihr forderte, lag ihr fern, und wahrscheinlich musste man sie als widernatürlichen weiblichen Charakter einstufen. Aber hätte er ihr etwas mehr von der leidvollen Vergangenheit der Zwillinge erzählt, hätte sie zumindest das übliche Mitgefühl an den Tag gelegt, das sie auch für andere Waisen verspürte. Sie nahm sich vor, zukünftig etwas herzlicher mit den beiden umzugehen. Und sich bei ihrem Gatten zu entschuldigen. Ihre Unterstellung war tatsächlich ausgesprochen geschmacklos gewesen. Er mochte die beiden aus wahrhaft barmherzigen Gründen aufgenommen haben, eine persönlichere Art, Wohltätigkeit auszuüben, als allgemeine Spenden zu geben. Man sollte dies achten, beschloss sie. Außerdem wollte sie noch einige Dinge mit ihm regeln, zu denen sie bisher noch keine Gelegenheit gehabt hatte. Es ging um ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen. Von ihrem Vater hatte sie eine Liste der Persönlichkeiten in Köln erhalten, denen sie anstandshalber einen Vormittagsbesuch abstatten sollte, und diese Besuche erforderten gleichermaßen, auch selber einen Empfangstag zu haben. Die Herrschaften auf ihrer Liste mochten zwar würdige Herrschaften sein, große Lust, sie zu ihrem näheren Umgang zu zählen, hatte sie allerdings nicht. Sie hatte gehofft, unter den Freunden ihres Mannes neue Bekanntschaften zu schließen, aber der schien ein rechter Eigenbrötler zu sein.
Sie lehnte sich mit der Stirn an den Stamm der Blutbuche und fragte sich, ob sie mit ihrer Eheschließung nicht vom Regen in die Traufe gekommen war. Sicher, sie war der frömmelnden Atmosphäre ihres Vaterhauses endgültig entronnen, und selbst ihr schamhaft gehütetes Geheimnis hatte sie bisher nicht offenbaren müssen, aber die gepriesene Freiheit einer verheirateten Frau genoss sie nicht, solange sie strikt ans Haus gebunden war und keinerlei gesellige Kontakte pflegen konnte. Dabei hatte sie sich auf Theaterbesuche und Ausstellungen, Soireen und Picknicks, vielleicht sogar den einen oder anderen Ball gefreut. Dererlei Abwechslungen hatte sie bisher weitgehend entbehren müssen. Aber wahrscheinlich machte Mansel sich nicht viel aus solchen schlichten Belustigungen.
Wenn sie wenigstens eine Freundin hätte, mit der sie dann und wann einen kleinen Bummel durch die Läden oder durch die Parks machen könnte.
Sie löste sich von dem Baum, wanderte weiter und pflückte eine frühe Rosenknospe.
Vielleicht - ja, vielleicht würde der liebenswürdige Leutnant Benningsen sie gelegentlich begleiten. Er war offensichtlich der engste Freund ihres Mannes und hatte sie die Male, die sie mit ihm zusammengetroffen waren, sehr zuvorkommend behandelt.
Ein kleines Lächeln stahl sich bei dem Gedanken in ihre Augen. Mit dem schmucken Offizier zu flanieren würde ihr sicher einige neidvolle Blicke einbringen.
So seelisch gestärkt, machte sie sich auf den Weg nach oben, um gebührend Abbitte zu leisten und dann ihre Vorschläge zu unterbreiten.
August 1837: Der Ausgang
KAM JE EIN LEICHNAM AUS DER GRUFT GESTIEGEN,
DER MELDUNG TAT VON DER VERGELTERIN?
Schiller: Resignation
Lange war er mühsam und unter höllischen Schmerzen durch die Höhle gekrochen, nachdem es ihm irgendwie gelungen war, mit dem Dolch die Fesseln zu zerschneiden. Ein uralter Instinkt, eine seltsame Verbindung zur Erde und ihren Strukturen hatte ihm geholfen. Ähnlich wie ein Tier, das Wasser wittert, hatte er gespürt, geahnt und manchmal geschmeckt. Mineralien, Sedimente, Metalle - Erde hatte Geschmack. Er kannte ihn gut genug, um sich in einer Welt, in der sein Augenlicht erloschen schien, zu orientieren, und er hatte nur überlebt, weil er die Stelle gefunden hatte, an der unerwartet Feuchtigkeit aus dem Gestein getreten war. Geduldig hatte er sie von der Wand geleckt, tropfenweise seinen brennenden Durst gestillt, seine fiebernde Haut gekühlt. Dann war er endlich vor Erschöpfung eingeschlafen. Und in dem seltsamen Zustand zwischen Schlummer und Erwachen hatte er in wirren Träumen oder Trancezuständen Spuren wahrgenommen, die er vielleicht mit verständigem Denken nicht bemerkt hätte. Einen hauchfeinen Luftzug, eine Schwankung der Temperatur, eine kaum wahrnehmbare Geruchsempfindung vermischten sich mit langjähriger Erfahrung und erlerntem Wissen. Angetrieben von dem Wunsch, zu überleben und Rache
Weitere Kostenlose Bücher