Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Ungehorsame Historischer Roman

Titel: Die Ungehorsame Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
Vom Netzwerk:
Sie mit Ihrem Selbstmord größere Schmerzen bereiten als mit einer noch so schwerwiegenden Verfehlung.«
    Der andere bewegte die Arme, und mit einem heimlichen Aufatmen bemerkte Hendryk Mansel, dass er die Schlinge über den Kopf zog. Dankbar kniete er nieder und ließ den Mann zu Boden. Dem aber knickten die Beine unter dem Körper weg, und er fiel ins Gras. Nun konnte er sich ein Bild von dem Geretteten machen. Er war ein magerer, blasser Mensch mit gekräuselten, rotblonden Haaren, etwas jünger als er, also Ende zwanzig, korrekt, wenn auch nicht modisch gekleidet in langen grauen Hosen, Weste und Überrock. Seine Hände waren nicht schwielig, sondern weich, wiesen aber Tintenspuren auf. Eine runde Brille hing ihm schief auf der Nase, auf der ein paar Sommersprossen so zusammenstanden, dass sie eine Mondsichel bildeten. Ein kleiner Angestellter, ein Kanzlist oder Schreiber vielleicht.
Der schmale Goldring an seiner Rechten mochte auf eine Ehefrau verweisen.
    »Mein Name ist Hendryk Mansel. Ich bin Vermessungsingenieur der Eisenbahn und sah Sie im Teleskop Ihre Vorbereitungen treffen«, eröffnete er das Gespräch.
    Der andere hustete, setzte sich dann auf und vergrub den Kopf in den Händen. Dann sah er hoch.
    »Ich sollte Ihnen wohl dankbar sein, Herr Mansel. Ich weiß noch nicht, ob ich’s wirklich bin. Aber - verzeihen Sie - mein Name ist Karl Lüning.«
    »Und was, Herr Lüning, trieb Sie dazu, eine solch drastische Maßnahme zu ergreifen?«
    »Die Schande. Mein Gott, die Schande. Verstehen Sie - mir droht eine Anzeige wegen Diebstahls. Sie wäre mein Ruin.«
    Wieder versank der Kopf in den Händen.
    »Eine berechtigte Anklage?«
    »Natürlich«, seufzte Lüning.
    »Ein großer Betrag?«
    »Gott, nein. Aber was spielt das für eine Rolle?«
    »Manchmal eine entscheidende. Könnten Sie es zurückzahlen?«
    »Wovon? Rücklagen habe ich nicht, und ich werde doch auch meine Stelle verlieren.«
    »Ja, eine schwierige Situation. Aber um Sie zu verstehen, Herr Lüning - warum haben Sie in die Kasse gegriffen? Denn darum geht es doch?«
    Ein müdes Nicken war die Antwort. Dann aber brach es wie ein Wasserfall aus ihm heraus, und Hendryk Mansel erhielt einen Einblick in das Leben eines nicht sehr willensstarken, aber im Grunde ehrbaren Mannes, der von seinem eigenen Leben überfordert worden war. Nebenbei erfuhr er auch ein paar ihm bisher unbekannte Tatsachen über den Charakter seines Schwiegervaters, Gustav Gutermann. Der nämlich war, als Aktionär, durchaus engagiert in der Bonn-Kölner Eisenbahngesellschaft tätig und hatte bei einer Belegprüfung einige Unregelmäßigkeiten entdeckt. Die Spur führte zu dem Kanzlisten, der, wie sich zeigte, einige Zahlen verändert hatte, um dann die entsprechenden Beträge für sich selbst abzuzweigen. Diese unrechte Aneignung fremder Gelder begründete Lüning damit,
dass er die Ausgaben für seine kranke Frau, die eben schwanger mit ihrem dritten Kind ging, nicht mehr habe aufbringen können.
    »Der Lohn hätte ja eben noch gereicht, aber ich musste letzten Monat auch Strafe an die Bruderschaft zahlen, weil ich die Versammlung versäumt hatte, um mich um die Kinder zu kümmern. Meiner Frau ging es doch so schlecht, wissen Sie.«
    »Welcher Bruderschaft gehören Sie an?«, wollte Mansel wissen.
    »Der Rosenkranzbruderschaft.«
    »Verzeihen Sie, ich bin da ein wenig uninformiert. Was ist das für eine Vereinigung?«
    »Eine Gebetsgruppe. Wir treffen uns wöchentlich zu Nachbarschaftsgebeten, um Rosenkränze zu sprechen. Es dient dazu, um einen guten Tod zu bitten. Wir spenden auch, und diese Gelder sind für wohltätige Zwecke gedacht. Waisen- und Siechenhäuser und so. Herr Gutermann ist unser Leiter. Gott, und ausgerechnet er musste die Belege entdecken. Er ist so streng, wissen Sie. Wir müssen uns immer ganz pünktlich einfinden, und Ausreden lässt er nicht gelten. Jedes Zuspätkommen wird bestraft, Fernbleiben noch mehr. Es ist wichtig, dass so viele Menschen wie möglich die heilige Jungfrau bitten, damit sie uns erhört, sagt er. Und so inbrünstig wie möglich.«
    »Sicher ein nützlicher Glaube, Herr Lüning. Aber wenn eine christliche Bruderschaft ihre Mitglieder finanziell bis kurz vor den Ruin führt, dann scheint sie mir nicht mehr besonders von Nächstenliebe beseelt zu sein.«
    Dieses Argument schien Lüning zu verblüffen. Sein graues Gesicht nahm wieder etwas Farbe an, als er nickte.
    »Da haben Sie vermutlich Recht. Ich habe es nie so betrachtet.«
    »Nun,

Weitere Kostenlose Bücher