Die Ungehorsame Historischer Roman
dann wollen wir jetzt mal über Ihre Zukunft nachdenken. Zufällig ist Gutermann mein Schwiegervater. Es wird mir wohl gelingen, ihn von der Anzeige Abstand nehmen zu lassen, wenn Sie sich verpflichten, den Betrag auszugleichen.«
»Himmel, das wollen Sie für mich tun?«
»Ja, und noch etwas - Sie sind mit den Schreibwerkzeugen offensichtlich gut vertraut?«
»Ich habe schon mit zehn Jahren meinen ersten Schreiberposten gehabt.«
»Schön. Ich führe ein kleines Vermessungsbüro und könnte einen Sekretär gebrauchen, der nicht nur die Korrespondenz einigermaßen selbstständig tätigt, sondern auch unsere zahlreichen Berichte, Berechnungen und Karten ordentlich erstellt und beschriftet. Trauen Sie sich das zu?«
»Sie muss mir ein Engel gesandt haben. Ja, Herr Mansel, ich traue mir, mit ein wenig anfänglicher Unterstützung, schon zu, derartige Arbeiten zu erledigen.«
»Nun, dann sprechen Sie in zwei Tagen bei mir vor. Hier ist meine Geschäftskarte.«
Lüning musterte sie kurz.
»Köln?«
»Vermutlich müssten Sie umsiedeln. Ist das ein Problem für Sie?«
»Nein. Unter den gegebenen Umständen bietet es sich wohl sogar an.«
»Das denke ich auch. Meine Angestellten werden Ihnen bei der Suche nach einer Unterkunft raten können, sie kennen sich in Köln besser aus als ich.«
Zwei Stunden später ritt Hendryk Mansel langsam an der zukünftigen Strecke entlang, doch einen kontrollierenden Blick hatte er diesmal nicht. Er hatte Lüning noch nach Hause gebracht und mit einigem Entsetzen festgestellt, in welch ärmlichen Verhältnissen die Familie lebte. In den verkommenen Mietshäusern an der Rheingasse bewohnten sie mit zwei Kindern, die zwischen sechs und acht Jahren alt waren, zwei feuchte Zimmer, in denen kaum das Nötigste an Möbeln stand. Die Frau, hochschwanger, zeigte deutliche Spuren einer zehrenden Krankheit, und auch die Kinder wirkten müde und kraftlos. Er hatte sich so schnell wie möglich verabschiedet, um Lüning die Gelegenheit zu geben, seine Lage zu beichten. Jetzt, mit einigem Abstand, fragte er sich, ob er wirklich richtig gehandelt hatte. Sicher, den Mann vor seinen Augen in den Tod gehen zu lassen, das hätte er nicht fertig gebracht. Aber ihm eine Stellung anzubieten? Andererseits - vielleicht war er ja tatsächlich brauchbar. Darüber, einen tüchtigen Sekretär einzustellen, hatte er schon manches Mal nachgedacht, vor allem, wenn er fluchend über den Eintragungen und Aufzeichnungen saß, die im Feld gemacht worden waren und
oftmals - auch seine eigenen - nur mit Mühe lesbar waren. Wenn ihm jemand diese Arbeit abnehmen konnte, war er wohl sein Geld wert. Wenn nicht, würde er ihn eben wieder entlassen.
Etwas anderes beschäftigte ihn dann aber noch mehr. Und das war eine unerwartete Einsicht. Auf Leonoras Abneigung gegen katholische Devotionalien, insbesondere Rosenkränze, fiel jetzt ein ganz neues Licht. Dass Gutermann ein strenggläubiger Mann war, hatte er gesprächsweise gehört und sich deswegen schon gewundert, weshalb er einer Mischehe so erfreut zugestimmt hatte. Es musste ihm also sehr viel daran gelegen gewesen sein, sein Fräulein Tochter loszuwerden. Dass er der Leiter einer dieser bigotten Bruderschaften war, machte ihn in Mansels Augen nicht sympathischer. Als nüchterner Sohn der evangelischen Kirche waren ihm ausschweifende Gebetsorgien suspekt, er hielt sie überwiegend für eine Art Selbstbeweihräucherung. Wie viel Scheinheiligkeit dahinter verborgen war, zeigte das Verhalten gegenüber den Armen und Geplagten in der eigenen Gemeinschaft.
Sollte seine Gattin vielleicht ähnliche Gedanken bezüglich der väterlichen Aktivitäten hegen? Das würde ihre Abneigung gegen den Rosenkranz, das Brevier und das Madonnenbild vor zwei Tagen durchaus erklärlich machen und auch die Tatsache, dass sie so ohne große Vorankündigung konvertiert war. Möglicherweise war es auch die Ursache für das kühle Verhältnis zu ihrer Familie.
Nun, er wollte sich da nicht einmischen, das war ihre Angelegenheit. Da sie nicht davon gesprochen hatte, würde auch er darüber schweigen, durch welchen Zufall er nun von der Rosenkranzgesellschaft wusste. Abgesehen davon war auch die Rettung eines Lebensmüden kein Thema für Damenohren.
Allerdings sagte ihm sein Gefühl für Takt und Anstand, er habe seine Frau zu Unrecht harsch behandelt. Ihre Reaktion auf die religiösen Gepflogenheiten der Kinder mochte ein wenig zu hart gewesen sein, aber ihre eigenen Erfahrungen mit
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