Die Ungehorsame Historischer Roman
man Frauen dieser Berufung für unmoralisch hält, nicht wahr?«
»Ich bin sicher, auch unsere Ballettkünstlerinnen sind integere Personen, aber das Zurschaustellen des Körpers - nun, du weißt, wie prüde manche Leute sind. Und sicher ist die Versuchung auch größer, wenn man über gewisse Freiheiten verfügt.«
»So ist es. Ich, genau wie meine ältere Schwester, verfügten über Freiheiten. In meiner Familie war das Tanzen Tradition, auch meine Mutter war eine Almeh, hat aber früh einen achtbaren Mann geheiratet.
Er tolerierte es, dass sie uns ausbildete, er schätze unsere Kunst hoch. Er war zur Hälfte übrigens Franzose, weshalb ich diese Sprache auch schon früh lernte. Wir hatten die beste Lehrerin und eine Begabung für Musik und Tanz, und mit sechzehn schon trat ich in den Frauengemächern am Hof des Vizekönigs auf. Mein Ruf sprach sich herum. Es kamen oft Europäer an den Hof, denn Mehemet Ali wollte von ihnen lernen, wollte sein Land an die abendländischen Sitten anpassen. Diese Besucher hatten von den berühmten Awalim gehört, und so wurde ich gebeten, tief verschleiert natürlich, bei den Festen für sie zu tanzen.«
Camilla drehte das Tuch in ihren Händen, doch Leonie lauschte gebannt. Sie hatte sich schon oft gefragt, wie das Leben ihrer Freundin früher ausgesehen haben mochte.
»Ich nehme an, die Herren waren fasziniert.«
»Das waren sie wohl. Es ist so eine ganz andere Art als das hiesige Ballett.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen.«
»Mir stieg der Ruhm zu Kopf, Leonie. Ich wurde immer übermütiger. Da oft Männer aus Deutschland bei Hofe verkehrten, lernte ich schon damals ein paar Brocken eurer Sprache, um mich mit ihnen unterhalten zu können. Sicher, das war nicht ganz schicklich, im Grunde hätte ich mich nach dem Tanz und der Musik sofort zurückziehen müssen, aber oft verlangten sie, dass ich mich zu ihnen setzte, und ihr Gastgeber hatte nichts dagegen einzuwenden. Es war ja nicht seine Ehre, die auf dem Spiel stand. Der Wunsch des Gastes wird immer respektiert, weißt du. Es ging auch nie über ein paar freundliche Worte hinaus - bis zu dem Tag, an dem ich einem der Besucher beinahe augenblicklich verfiel.«
Sie schüttelte verzweifelt den Kopf.
»Urs?«
»Nein, oh nein. Leonie - weißt du es?«
»Leo hat sich mir anvertraut, bevor er weggefahren ist. Mit dir darf ich darüber sprechen, meinte er.«
»Ja, bei mir ist sein Geheimnis sicher. Hoffentlich. Es ist gut, dass er es dir endlich gesagt hat, ich habe es ihm schon nach dem Bazar geraten.«
»Du hast ihn auf Anhieb erkannt.«
Ein schmerzliches Lächeln huschte über ihr Gesicht.
»Ja, und ich habe mich drei Tage damit gequält, wie ich mich dir gegenüber verhalten sollte. Ich glaubte, ich hoffte, er sei Urs. Nun, er ist es nicht, und das macht es leichter. Ich hätte dir nicht gerne den Gatten abspenstig gemacht, Leonie.«
»Kampflos hätte ich ihn dir auch nicht überlassen.«
»Wir sollten es nie darauf ankommen lassen, einander zu bekämpfen. Wir sind uns ebenbürtig.«
»Die Löwin und die Schlange, wie Gawrila es zu formulieren beliebte.«
»Beliebte sie? Wie treffend. Nun, aber zurück zu meiner Dummheit. Ich verliebte mich und fand - man findet in solchen Fällen immer Wege - die Möglichkeit, mit dem Mann ein Verhältnis zu beginnen. Er war charismatisch, betörend - und auch mir verfallen. So sehr, dass ich Angst vor ihm bekam und die Verbindung abbrach. Es kostete mich viel, Leonie, aber es galt zu überleben. Er hat mir und meiner Schwester Ungeheuerliches angetan. Einige Monate lebte ich zurückgezogen, leckte meine Wunden und suchte in der Musik meine Heilung. Als ich wieder tanzte, rührte ich meine Zuschauer zu Tränen. Ich hatte eine neue Form meiner Kunst gefunden. Und schon bald trat ich auch wieder vor Fremden auf, und diesmal traf ich einen Mann, in dem ich eine ähnliche Trauer entdeckte wie die, die ich gerade überwunden hatte. Urs, der Botschaft vom Tod seiner Geliebten erhalten hatte und Ablenkung in Abenteuern suchte.«
»Du hast ihn getröstet.«
»Ja, und dabei entdeckte ich die Liebe. Vorher war es Leidenschaft, Wahnsinn, Wollust und Schmerz gewesen, jetzt war es Vertrauen, Hingabe und Zärtlichkeit. Er wollte zurückkommen. Es war ihm nicht vergönnt.«
Sie weinte wieder, und Leonie schenkte ihnen beiden von dem Sherry ein.
»Und dann hast du Jacobs getroffen?«
»Ja. Urs hatte mir viel von seiner Heimat erzählt, und ich wollte ihm irgendwie nahe sein, auch wenn er
Weitere Kostenlose Bücher