Die Ungehorsame Historischer Roman
Kirschbaum stand und nach oben schaute. Offensichtlich hatte Miezi sich bei ihrer Kletterpartie zu weit nach oben gewagt und traute sich nicht mehr nach unten.
»Miezi, komm. Du musst runterklettern. Ach Miezi, du Dummköpfchen! Nicht höher! Nach unten!«
Kopfschüttelnd beobachtete die Nachbarin noch einen kleinen Augenblick das Drama, dann erklomm sie resolut die wackelige Leiter, die der Gärtner an den Stamm gelehnt hatte, um die Früchte zu ernten, um jetzt ihre Katze aus dem Laub zu pflücken. Leonie sah nur noch den Saum des blau-weiß gestreiften Rocks und die weißbestrumpften Waden und hörte ihre Stimme lockend gurren und maunzen. Es raschelte im Geäst, und offensichtlich hatte das verängstigte Kätzchen Mut gefasst und machte sich an dem Abstieg.
Dann aber passierte das Missgeschick. Die Nachbarin griff nach dem Tierchen, dabei verlor sie den Halt auf der Leiter, diese kippte vom Baum weg, und mit einem Quietschen hing die Frau nun mit zappelnden Beinen in der Luft.
Vermutlich war sie alleine im Haus, denn auf ihr verzweifeltes Rufen hin kam niemand. Leonie dachte nicht lange nach. Sie lief die Treppe zum Garten hinunter, raffte beherzt die Röcke und stieg über den Zaun zwischen den Grundstücken.
»Halten Sie aus, ich helfe Ihnen!«, rief sie dabei, während sie die Ranken eines Himbeerstrauchs aus ihren Unterröcken entfernte.
»Oh, Gott sei Dank!«, kam es von oben.
Leonie stellte die Leiter wieder an den Stamm und führte die Füße der Baumelnden auf die Sprossen.
»Himmel, du kleines Biest, jetzt komm schon, nur noch ein Ast!«, sagte diese und kletterte behutsam nach unten. Als sie am Boden angekommen war, schoss wie ein schwarzer Pfeil die Katze an ihr vorbei ins Haus.
»Danke, ach danke. Ich hätte zwischen den Kirschen verhungern können, elendig verenden, hätten Sie mir nicht geholfen! Mein trotteliges Mädchen ist taub auf beiden Ohren!«
Leonie musste über diesen Überschwang lachen und meinte: »Eher hätten Sie sich beim Absturz die Knöchel verrenkt, als dass Sie zur Dörrfrucht geworden wären.«
»Ich würde Ihnen ja liebend gerne die Hände zum Dank reichen, aber schauen Sie selbst. Das will ich Ihnen nicht zumuten.« Borkenstücke und Kirschsaft verschmierten die weißen, zarten Finger, die sie vorzeigte. »Aber ich darf Sie, meine Retterin, doch sicher zu einem Stück Kuchen einladen?«
»Oh, ich weiß nicht …«
»Sie wollen doch wohl nicht über den Zaun zurückkrabbeln! Kommen Sie mit ins Haus, dann können Sie den anständigen Weg durch die Tür wählen. Und sich an einem Stück Gebäck stärken!«
Die junge Frau war so herzlich, wenn auch unkonventionell in ihrem Benehmen, dass Leonie zustimmte, die Erfrischung anzunehmen.
»Ich bin Selma Kersting. Ich weiß, Sie sind Frau Mansel und haben gerade erst geheiratet. Ich hatte schon vor, in den nächsten Tagen einmal vorzusprechen, wollte Ihnen aber noch Zeit geben, sich ein bisschen einzugewöhnen. Hier, das ist unsere gute Stube. Nehmen Sie Platz, liebe Retterin!«
Sie rauschte aus der Tür, um sich um den Kuchen zu kümmern, und Leonie sah sich um.
Das Nachbarhaus war um einiges kleiner als das ihre, die Kerstings offensichtlich nicht übermäßig vermögend. Die Möbel wirkten alt, wenn auch sorgsam gepflegt, doch war das Zimmer mit allerlei
Zierrat und Firlefanz dekoriert. Getrocknete Blumen standen in nachgemachten China-Vasen, in Messingschalen lagen bunte Steine, eine Girlande aus schreiend bunten Seidenblumen rankte sich von einer mit Porzellan und Gläsern gefüllten Vitrine, und mit Katzen bestickte Kissen lagen auf jedem freien Polster.
»Sie scheinen Katzen sehr zu mögen, Frau Kersting«, meinte Leonie, als ihre Gastgeberin ein voll beladenes Tablett auf einem freien Eckchen auf dem Tisch abstellte, und deutete auf einen Stickrahmen, in dem gerade das nämliche Motiv im Entstehen war.
»Sie sind so liebe Geschöpfe, ich habe von Kindheit an immer Katzen um mich herum gehabt. Da ist ja auch Miezi. Dummerchen!«
Sie versuchte, die schlanke Schwarze auf den Arm zu nehmen, aber die entzog sich scheu der Aufmerksamkeit.
»Lassen Sie sie, bestimmt ist sie noch aufgeregt von ihrem Abenteuer!«
»Ja, wahrscheinlich.« Sie goss Limonade in ein Glas und reichte es Leonie.
»Noch einmal danke für Ihre Hilfsbereitschaft. Haben Sie sich denn schon ein bisschen in Köln eingelebt, Frau Mansel?«
»Ich hatte noch nicht viel Gelegenheit, mein Mann ist beruflich viel unterwegs, wissen Sie.«
»Ah ja,
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