Die Ungehorsame Historischer Roman
jetzt verzückt aufjuchzten, als sie das verlockende Angebot der Speisekarte studierten. Auch Leonie freute sich auf das ungewöhnliche Erlebnis der Rheinreise, und selbst als die mächtigen Maschinen aufbrüllten und das Schiff mit der Kraft von sage und schreibe siebzig Pferden in Bewegung setzten und den Boden unter den Füßen zum Vibrieren brachten, fühlte sie keine Ängstlichkeit.
Allerdings war es recht laut an Bord, und so überließ sie es ihrem Gatten, den Kindern die Technik des Radantriebs zu erklären, und verfolgte die vorbeiziehende Landschaft.
Die vergangenen Wochen waren außerordentlich harmonisch verlaufen, ihr Gemahl hatte sich mehr und mehr von einer Offenheit gezeigt, die er in den ersten Monaten ihrer Ehe doch sehr gemieden hatte. Nein, anvertraut hatte er sich ihr nicht. Er blieb seiner Rolle treu; in das, was sich dahinter verbarg, erhielt sie keinen Einblick. Indes zeigte er lebhaftes Interesse an ihrem Leben und ihren Beschäftigungen, ermunterte sie, über ihre gesellschaftlichen Erlebnisse zu berichten, und kommentierte das Erzählte gerne mit einer Art trockenen Humors, die sie oftmals so sehr erheiterte, dass sie anschließend Mühe hatte, in Gegenwart der betroffenen Personen ernst zu bleiben. Er hatte auch nie wieder diktatorische Verbote ausgesprochen wie weiland jenes, keine okkulten Séancen mehr zu besuchen. Und seine Mahnung, sich nicht zu eng an Sonia von Danwitz anzuschließen,
traf bei ihr auf offene Ohren. Sie selbst hatte schon begonnen, Distanz aufzubauen, zwanglose Treffen mied sie ganz, und bei Einladungen schob sie immer häufiger häusliche oder andere Verpflichtungen vor. Zudem war Sonia nach Karneval einige Wochen krank gewesen und hatte sich von der Gesellschaft zurückgezogen. Ihre Freundschaft mit Camilla hingegen schien ihr Gatte zu tolerieren, wenn er auch nach wie vor vermied, mit ihr zusammenzutreffen. Sie akzeptierte das. Wenn Jacobs’ Gattin in irgendeiner Form etwas mit seiner Vergangenheit zu tun hatte, die er zu verbergen wünschte, würde sie die Begegnung nicht mutwillig herbeiführen. Und auch Camilla fragte sie nicht mehr nach Bekannten aus ihrer Kairoer Zeit aus. Sie hatten mehr Themen zur Verfügung als alten Klatsch. Beide fanden sie großen Gefallen an der antiken Kunst und besuchten gerne Ausstellungen, sie liebten beide die Musik, und Camilla ließ sich von ihr gerne am Klavier die europäischen Kunstformen erklären. Sie wiederum zeigte ihr, auf der Oud spielend, oft von der verschleierten Dienerin auf einer kleinen Trommel begleitet, die variantenreichen Arten der orientalischen Musik.
Und dennoch, sinnierte Leonie, war sie tatsächlich hinter Camillas Geheimnis gekommen. Aufgedeckt hatte es kurioserweise ihre Schneiderin Gawrila.
Vor zwei Wochen hatte sie sie wieder einmal aufgesucht, weil Hendryk neckend behauptet hatte, es könne nicht Frühling werden, bevor nicht eine neue Garderobe ihre Schränke füllte. Welche Frau hätte einer solchen Aufforderung schon widerstehen können? Natürlich hatte sie im Laufe der letzen Monate ihren Kleiderschrank durchgesehen und mit Gawrilas Hilfe all jene Gewänder, die ihre Stiefmutter mit ihrem unfehlbar schlechten Geschmack ausgewählt hatte, verändert. Ellen um Ellen Rüschen und Volants hatte sie abgetrennt, Tuffs und Bordüren, Fransen und Blumen entfernt und durch einfarbige Bänder oder feine Spitzen ersetzt. Das schreckliche gelbgeblümte blaue Kleid war zum Wäscherinnenkostüm umgewandelt worden, das scheußliche tannengrüne Reisekleid trug jetzt Jette sonntags stolz zur Kirche, und zwei buntbedruckte Sommerkleider hatte Gawrila nur mit einem Schaudern in die Ecke geworfen und gemurrt, man möge Putzlumpen daraus schneiden. Also war ihr Bestand an tragbaren Gewändern recht zusammengeschrumpft
und der Besuch bei der Schneiderin obligatorisch geworden. Sie hatte eine Weile warten müssen, denn als sie kam, schacherte Madame gerade wie ein Bürstenbinder mit einem Stofflieferanten. Sie hatte aber keine Langeweile, sondern betrachtete in dem unordentlichen Atelier einige kühne, halb fertige Entwürfe und blieb dann vor den Bildern stehen, die die Besitzerin an die Wand gehängt hatte. Landschaften schien sie zu lieben, manch verträumte Idylle war darunter, aber Leonie erkannte auch zwei Werke, die sie bei der Vernissage in Jacobs’ Haus gesehen hatte - Bilder von Wüstenlandschaften, sonnendurchglüht, karg bis auf einige blassgrüne, dornige Gewächse und bizarre, rötliche Felsen, die
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