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Die Ungehorsame Historischer Roman

Titel: Die Ungehorsame Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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wertete das richtig, dass auch sie ein wenig zu rasten wünschte, und sie wanderten einige Schritte weiter, um an einem Beet voller Osterglocken auf einer Bank Platz zu nehmen. Leonie nahm das kecke Nichts von einem Strohhütchen ab und schloss die Augen. Friedlich war es hier, die Besucher hatten sich auf den gewundenen Wegen verlaufen, und nur die Vögel unterhielten sie mit ihrem Gesang. Die Gartenanlage war harmonisch gestaltet, kleines Gebüsch lockerte weite Rasenflächen auf, Laubbäume, licht gepflanzt, entfalteten ihre vollkommene Form, hier und dort bildeten Blumenrabatten bunte Flecken, und kleine Pavillons oder Statuen fingen den schweifenden Blick auf. Manchmal in solchen ruhigen Stunden packte ihn unerwartet ein schmerzliches Heimweh. Ähnlich wie jenem Mönch entglitt ihm die Zeit, und tausend Jahre waren vor ihm, wie es im Psalm hieß, wie ein Tag. Erst der ferne Klang einer Kirchenglocke holte ihn in die Gegenwart zurück. Drei Uhr schlug es, und er sah die Zwillinge auf sie zukommen. Was für schöne, lebendige Kinder sie sind!, dachte er erfreut.
    »Und, könnt ihr uns die Ballade aufsagen?«
    »Ja, Herr Pastor.«
    »Und wer von euch wird sie vortragen?«
    »Lennard!«, bestimmte Leonie mit einem Augenzwinkern, aus dem Hendryk schloss, dass Ursel derartige Übungen leichter fielen. Mit einem leichten Murren nur stellte der Junge sich also in Positur, während Ursel, das Blatt in der Hand, neben dem Pastor Platz nahm. Er rezitierte, wenn auch ein wenig eintönig, aber fließend:
    »Ein junger Mönch des Klosters Heisterbach
Lustwandelt an des Gartens fernstem Ort.
Der Ewigkeit sinnt still und tief er nach
Und forscht dabei in Gottes heil’gem Wort.
     
    Er liest, was Petrus der Apostel sprach:
Dem Herren ist ein Tag wie tausend Jahr
Und tausend Jahre sind ihm wie ein Tag.
Doch wie er sinnt, es wird ihm nimmer klar.«
    Lennard stockte kurz und warf seiner Schwester einen hilfesuchenden Blick zu. Die aber hatte die Augen fest auf das Papier gerichtet und gab keinen einzigen Laut von sich. Doch plötzlich fiel ihm wohl wieder ein, wie es weiterging, und er sprach:
    »Und er verliert sich zweifelnd in den Wald.
Was um ihn vorgeht, hört und sieht er nicht.
Erst wie die fromme Vesperglocke schallt,
Gemahnt es ihn der ernsten Klosterpflicht.
     
    Im Lauf erreichet er den Garten schnell;
Ein Unbekannter öffnet ihm das Tor.
Er stutzt - doch sieh, schon ist die Kirche hell
Und draus ertönt der Brüder lauter Chor.«
    Wieder stockte er, das nämliche Schauspiel folgte.
    Es wiederholte sich noch zweimal, dann sagte er mit neu gewonnenem Pathos die letzte Strophe auf:
    »Was er verhüllt, macht nur ein Wunder klar.
Drum grübelt nicht, denkt meinem Schicksal nach.
Ich weiß, ihm ist ein Tag wie tausend Jahr,
Und tausend Jahre sind ihm wie ein Tag.«
Lennard wurde mit Lob überschüttet, nur Leonie hielt sich unerklärlicherweise zurück. Hendryk fragte sich, warum, und als sie sich auf den Rückweg machten, bot er ihr den Arm und verhielt einige Schritte hinter dem Pastor, der die Kinder an die Hände genommen hatte.
    »Warum haben Sie den Jungen so ärgerlich angesehen, Leonie? Er hat die Ballade doch sehr ordentlich vorgetragen!«
    »Er hat geschummelt! Er schummelt jedes Mal, wenn er etwas auswendig lernen muss.«
    »Er hat aber doch nicht in das Blatt schauen können. Das hielt Ursel in der Hand.«
    »Eben.« Und plötzlich lachte sie. »Wissen Sie, wenn ich nicht früher
dasselbe Spiel mit meinem Bruder getrieben hätte, wäre ich ihnen nie auf die Schliche gekommen.«
    Überrascht, dass sie ihren Bruder erwähnte, sah er sie an.
    »Ich denke, irgendeiner wird Ihnen schon von Matthias erzählt haben. Ich spreche nicht gerne darüber. Aber das hier - nun ja, wir standen einander sehr nahe, sicher genauso wie die Zwillinge. Wir konnten einander auch ohne Worte vorsagen. Sehen Sie, Ursel konzentriert sich auf den Text, und wenn Lennard nicht weiterkommt, dann denkt sie den nächsten Satz, und er weiß es.«
    Wieder einmal hatte sie ihm mit einer ganz beiläufigen Bemerkung einen Schlag versetzt, der ihm schier den Atem verschlug. Mühsam brachte er heraus: »Ja, ich weiß, was Sie meinen, Leonie. Ich weiß es sehr gut.«
    Sie blieb stehen und sah ihn an.
    »Sie haben auch ein Geschwisterteil verloren, richtig?«
    »Ja. Und unsere Gedanken waren auf ebensolche Art verflochten. Gott, Leonie, was müssen Sie durchgemacht haben, als Ihr Bruder starb!«
    »Man ist bei ihm, bis zum Ende. Und danach fehlt ein

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