Die Ungehorsame Historischer Roman
achtete er wirklich, er war immer gerecht und oftmals großzügig. Richtig großartig fand er ihn vor allem, weil er ihn hin und wieder in den Boxklub mitnahm und ihm
dort einige sehr nützliche Tricks beibrachte, die man brauchte, um sich in der herben Welt der Männer zu behaupten. Aber mit ihr konnten sie lachen und scherzen. Sie merkte auch immer, wenn etwas nicht richtig lief. Manchmal war das natürlich auch lästig, denn ihr gegenüber hatte er die Prügeleien nicht verheimlichen können.
Aber sie hatte nichts weitergesagt.
Ein prima Frauenzimmer, doch, wirklich.
Heute hatte sie Geburtstag, und sie hatten kleine Geschenke für sie vorbereitet. Ursel hatte vier Batisttaschentücher gesäumt und mit Leonies Monogramm bestickt, den Stoff dafür hatte sie der grimmigen Schneiderin abgeschmeichelt, zu der sie sie immer mal wieder mitschleppte. Weiberkram eben, und lange nicht so gut wie Boxen. Aber für Ursel sicher schon ganz richtig. Er selbst hatte ihr ein Adressenbuch gebastelt und die Seiten mit Buchstaben in Schönschrift versehen. Seine Schrift, darauf war er stolz, wurde sogar von den Lehrern gelobt.
Als sie ihr die Gaben am Frühstückstisch überreichten, hatte die Gnädige vor Freude ganz schwimmende Augen bekommen und sie beide peinlicherweise fest an sich gedrückt. Ursel mochte das ja, aber seine Würde bekam durch derart weibisches Benehmen doch Knitter und Falten. Aber ansonsten, das musste er zugeben, war sie nicht übertrieben gefühlsduselig. Wenn er hörte, was die anderen Mütter so trieben - Tee trinken, Besuche machen, Besuche empfangen, Tee trinken -, dann hatte sie doch schon viel mehr auf dem Kasten. Allein schon die ganzen Uhrwerke und so. Und jetzt diese Schlange. Es war richtig nett von ihr, Ursel und ihn zu bitten, ihr zu helfen. Zwei Nachmittage in der Woche saßen sie zusammen und überlegten und bastelten daran herum. Derzeit formten sie aus Fischbein - sein eigener Vorschlag, weil sie ihn erst mit den Gräten aufgezogen und dann beschämt eingesehen hatte, dass ausgerechnet dieses biegsame Material besonders geeignet für das Skelett war - die Rippen des Tieres. Die Gnädige selbst hatte ausgetüftelt, dass zwischen den einzelnen Gliedern der Wirbelsäule kleine Kugellager eingebaut werden mussten, um das Rückgrat in alle Richtungen beweglich zu machen. Verbunden werden sollten die Wirbel mit den Rippen dann durch Stoffbänder. Aber so weit waren sie noch nicht.
Seinen Schulweg hatte er über diesen Überlegungen beinahe ganz
zurückgelegt und nun die Hohe Straße erreicht. Ein Blumenmädchen stand an der Straßenecke neben Müllers Caféhaus und bot bunte Sträußchen an. Ein junger Galan hatte ihr gerade eines abgekauft und überreichte es seiner Begleiterin, die es begeistert an ihre Brust drückte.
Frauen mochten so einen Firlefanz, das hatte er schon gemerkt. Und das Mädchen wollte auch nur zwei Pfennige für den Strauß haben. Da der sparsame Lennard inzwischen ein wohlhabender Mann mit einem dicken Sparstrumpf war, beschloss er, eine weitere großzügige Geste zu zeigen, und kaufte ihr auch eines ab, um es der Gnädigen zu überreichen. Schließlich hatten sie nicht nur Weihnachten und zu ihrem Geburtstag, sondern auch zu Ostern reiche Geschenke bekommen.
Ja, das Leben war schön geworden, und den einzigen dunklen Punkt, diese verbotenen Besuche in der Unterwelt, den sollte er auch besser vergessen. Er tat sein Bestes, ja er mied sogar tagsüber die Nähe der Budengasse, aber genau wie Ursel plagten die Erinnerungen ihn dann und wann in den Träumen.
Und ausgerechnet heute war er wieder auf eine Verbindung dazu gestoßen. Er wusste noch nicht recht, ob er seiner Schwester davon erzählen sollte. Aber wahrscheinlich würde sie es sowieso erraten.
Es war wegen Thomas. Der hatte nämlich im Naturkundeunterricht ein Krokodil gezeichnet. Das war so weit in Ordnung und gehörte zur Aufgabe, die sie erhalten hatten. Aber seines hatte einen Menschenkörper, und das Gewand, das dieser Mensch trug, kam ihm unangenehm bekannt vor. Als er ihn fragte, wie er denn auf diese verrückte Idee gekommen sei, einen Krokodilmenschen zu malen, da erzählte er doch tatsächlich, er habe eine solche Maske und das Gewand in einer Truhe im Keller gefunden. Sein Vater hatte ihm einen ungeheuren Terz gemacht, als er es angelegt hatte und damit in den Salon gekommen war, um die Damen zu erschrecken, die zu Besuch weilten. Er hatte, das vertraute er seinem Freund verschämt an, eine ganz
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