Die Ungehorsame Historischer Roman
Stück der Seele«, flüsterte sie, und tiefer Schmerz klang in ihrer Stimme mit.
»Ja, Leonie. Genau so.«
Er ließ alle Achtsamkeit fahren und zog sie an sich. Still legte sie ihren Kopf an seine Schulter, und als er über ihren Scheitel den Kindern nachschaute, war das Wissen plötzlich da. So einfach, so selbstverständlich, so vollkommen. Es war ohne sein Zutun geschehen und ohne seinen Willen. Aber er wusste, niemals würde er es ungeschehen machen können.
Er wollte es auch nicht mehr.
Er hatte so lange ohne Liebe gelebt.
Neue Schule
SCHNELL DIE MAPPE ÜBERN KOPF,
UND DIE KAPPE AUF DEN SCHOPF.
UND NUN SPRING UND LERNE VIEL.
WER SICH TUMMELT, KOMMT ANS ZIEL
Friedrich Güll: Schulreime
Lennard warf sich die Büchertasche über die Schulter und machte sich auf den Heimweg. Seit Beginn des neuen Schuljahrs nach Ostern besuchte er das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium und war damit mehr als zufrieden. Obwohl es bedeutete, dass er nun nicht mehr so viel Zeit mit Ursel verbringen konnte, was ihn zunächst verstimmt hatte. Aber mit den anderen Knaben zusammen zu lernen hatte auch seinen Reiz. Erstmals traf er in der Klasse nun auch Gleichaltrige, die aus ähnlichen häuslichen Bedingungen stammten, wie er sie im vergangenen Jahr selbst schätzen gelernt hatte. Wohlweislich hielt er den Mund über die weniger erquicklichen Lebenserfahrungen seiner frühen Jahre. Er galt als der angenommene Sohn der Mansels, und somit hatte er sich tatsächlich abgewöhnt, sie als den Herrn und die Gnädige zu titulieren. Zumindest anderen gegenüber. Auch seine katholische Erziehung legte er mit Windeseile ab, da sie ihn in dem protestantischen Gymnasium zu einem skurrilen Außenseiter gemacht hätte.
Das Letzte, was er sich wünschte, war, in dieser anregenden Gemeinschaft von Bürgersöhnen nicht völlig anerkannt zu sein. Da er nicht nur anpassungsfähig und intelligent war, sondern sich auch wissensmäßig aufgrund der Bildung, die er in den vergangenen Monaten aufgesogen hatte, mit ihnen messen konnte, hatte er auch wenige Schwierigkeiten. Natürlich gab es auch unter den Schülern seiner Klasse ein paar Stinkstiefel, die auf ihn herabschauten oder hämische Bemerkungen machten, wenn er sich in irgendeinem in der Gemeinschaft üblichen Ritual nicht gleich zurechtfand, aber das konnte man diskret bereinigen.
Diskret in der Form, dass weder die Lehrer noch Herr Mansel etwas
von den zwei oder drei gezielten Boxhieben erfuhren, mit denen er seine Ehre verteidigt hatte.
Diese löblichen Kenntnisse hatte er bei seinem Banknachbarn nicht einsetzen müssen. Thomas Gerlach war ein guter Kumpel, sein Vater ein angesehener Apotheker, sein Bruder zwei Klassen über ihnen, was ihm ein gewisses Zusatzwissen über die Pauker bescherte. Außerdem war er ein begnadeter Zeichner, und seine Karikaturen, meist heimlich an den Rand eines Zettels gekritzelt, brachten Lennard immer wieder zum Lachen.
Im Unterricht kam er gut mit, alle naturkundlichen Fächer und die Mathematik bereiteten ihm große Freude, Englisch fiel ihm leicht, Latein hasste er zwar abgrundtief, bemühte sich aber dennoch, und nur in Literatur und Dichtkunst fehlte ihm Ursel erheblich, und er sah sich doch tatsächlich gezwungen, mühsam Gedichte auswendig zu lernen.
Seine Schwester ging nun zur Höheren Töchterschule, wo sie es ähnlich gut getroffen hatte, und wenn auch die Mädchen weit albernere Dinge lernen mussten, war sie doch ganz zufrieden. Denn zu Hause gab es nun auch andere Regelungen. Ein weiteres Dienstmädchen war eingestellt worden und kümmerte sich um die Wäsche und Bügelarbeiten, räumte die Zimmer auf und ging, wenn nötig, den Herrschaften zur Hand. Obwohl Lennard und Ursel es immer noch als Privileg erachteten, gewisse Dienste eigenhändig zu leisten. Sie hatten sogar jeder ein eigenes Zimmer bekommen, klein nur, aber nicht mehr in der Mansarde, sondern ein Stockwerk tiefer. Oben war weiterhin ihr Studierzimmer, das sie gemeinsam nutzten, aber auch das war neu ausgestattet worden mit einem wohlgefüllten Bücherbord, einem drehbaren Globus, einem Teleskop und zwei Schreibtischen.
Tatsächlich hatte er angefangen, sich richtig wohlzufühlen, und die Vergangenheit verblasste mehr und mehr. Selbst seine Mutter vermisste er nicht mehr, denn die Gnädige war so nett zu ihnen. Eigentlich fast wie eine Mutter. Auch wenn er sich geraume Zeit dagegen gewehrt hatte, musste er sich doch eingestehen, dass er sie fast lieb gewonnen hatte. Den Herrn
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