Die ungehorsame Tochter
Wagner auf einen Stuhl und goss ihm ein Glas Wasser ein.
«Bitte, Monsieur Herrmanns, wo ist sie?» Wagner nahm das Glas entgegen wie eine äußerst lästige Gabe, aber er vergaß zu trinken.
«Wo?», drängte er.
Claes sah auf den kleinen dicken Mann hinunter und fühlte zum ersten Mal, seit Anne das Haus verlassen hatte, einen echten
Anflug von Heiterkeit.
«Ihr erstaunt mich, Wagner. Ihr wisst doch selbst, wo Rosina ist: auf dem Ritt ins Sächsische. Wo sonst sollte sie sein?»
«Gewiss, ins Sächsische. Natürlich. Aber wo genau? Wisst Ihr, wie weit sie schon sein mag?»
Er hätte nun gerne einige der Orte aufgezählt, die sie auf ihrem langen Ritt passieren würde, aber er kannte deren Namen nicht
und spürte wieder einmal die Qual, die Unwissenheit bereiten kann.
«Genauer? Das weiß ich nicht. Es hängt von dem Wetter ab, von der Beschaffenheit der Wege, der Qualität der Pferde. Sie haben
sehr gute Pferde, aber die Wege werden jetzt im Frühjahr morastig sein, und Rosina ist das lange Reiten nicht gewohnt. Sie
werden nicht so schnell vorankommen wie Klemens, wenn er allein ritte.»
«Ja, aber
wie
schnell? Wo sind sie
jetzt
?»
«Wagner! Warum wollt Ihr das wissen? Fehlt Euch Mademoiselle Rosina schon so sehr? Wollt Ihr ihr etwa folgen?» Claes lächelte
über seinen Scherz und trat verdutzt zurück, als Wagner von seinem Stuhl aufsprang.
«Folgen», rief er. «Genau das. Man muss ihr folgen, sofort. Glaubt Ihr, es ist möglich, sie einzuholen? Wenn man sehr schnell
reitet? Wenn man wie die reitenden Botenan jeder Poststation das Pferd wechselt? Das muss doch möglich sein.»
«Irgendwo holt man sie gewiss ein», sagte Christian, der Wagner, von dessen ungewöhnlichem Auftritt neugierig gemacht, gefolgt
war. «Sie sind nun schon vier Tage unterwegs, beinahe fünf. Trotzdem könnte man sie einholen, sie werden ja kaum galoppieren.
Heute ist Vollmond, wenn der Himmel klar bleibt, kann man auch einen großen Teil der Nachtstunden reiten. Ein wenig Schlaf
braucht man natürlich, sonst fällt man irgendwann vom Pferd.»
«Das ist alles schön und gut, Wagner. Könntet Ihr trotzdem zuerst die Güte haben zu erklären, warum Ihr Rosina einholen wollt?»
«Wollt? Ich muss. Allerdings, wenn Ihr es möglich machen könntet,
wir
müssen. Ich reite nicht sehr gut, genauer gesagt: so gut wie gar nicht. Ein schneller Ritt ist mir völlig unmöglich. Ich hatte
gedacht, dass vielleicht Ihr, Monsieur Herrmanns, oder Monsieur Christian …»
«WARUM? Was ist passiert, Wagner?»
«Es ist möglich, dass Mademoiselle Rosinas Cousin, Monsieur Lenthe, dass er, nun ja.» Endlich hob Wagner das Glas an die Lippen
und trank gierig, bis es geleert war.
«Herrgott, Wagner, so redet doch. Was ist mit Klemens Lenthe?»
«Ein Mörder», sagte Wagner, «es ist möglich, dass er ein Mörder ist. Ja. Sogar wahrscheinlich. Sicher, sozusagen. Und Mademoiselle
Rosina ist mit ihm unterwegs, ganz allein. Ausgerechnet Mademoiselle Rosina. Seine einzige Cousine.» Er sackte in sich zusammen,
suchte endlich doch nach seinem großen blauen Tuch und begann es mit beiden Händen zu kneten. «Die Tote aus derElbe», fuhr er fort. «Wir haben jetzt den, der es getan hat. Der sie ins Wasser gestoßen hat.»
«Ja, und? Wollt Ihr mir erzählen, Rosinas Cousin habe die Tochter des Lotsen getötet? Warum hätte er das tun sollen? Er kann
das Mädchen nicht einmal gekannt haben. Das ist doch verrückt.»
«Nein.» Wagner schüttelte den Kopf. «Das hat er nicht getan. Samuel Luther war es. Ihr werdet ihn nicht kennen, ein einfacher
Kerl aus Altona, er arbeitet hin und wieder für den dortigen Hafeninspektor. Der hat es getan. Luther, meine ich, nicht der
Inspektor. Wahrscheinlich. Sicher, sozusagen. Aber
ganz
gewiss ist es nicht.»
Es war nur Christians Eingreifen zu verdanken, dass Claes den Weddemeister nicht schüttelte und der endlich schnell, knapp
und von Anfang an erzählte.
Der Mann, den sie von der Station in Cuxhaven in die Fronerei brachten, hatte den Lotsen schließlich doch gestanden, Anna
Hörne in die Elbe gestoßen und ihr auch die Kette entrissen zu haben. In der Fronerei stritt er das wieder ab. Wagner vermochte
nicht zu entscheiden, ob die Lotsen, die sich als Rächer für Leid und verletzte Ehre eines der Ihren sichtlich wohl fühlten,
das Geständnis erprügelt oder gar erfunden hatten oder ob der Gefangene nur eine Finte versuchte, um seinen Kopf zu retten.
Er behauptete nun
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