Die ungehorsame Tochter
der düsteren Zelle und erhob
sich nur zur Nacht, wenn sie ihn in das einer Schublade ähnliche hölzerne Lager brachten und anketteten. Die Welt schien ihn
vergessen zu haben, und er vergaß die Welt. Der Lärm, der am Tag von dem Berg genannten großen Platz vor der Fronerei nahe
St. Petri hereindrang, ließ ihn sich nicht wie andere Gefangene nach der Freiheit sehnen. Je länger er eingeschlossen war, umso
tiefer versank er im Morast seiner Gedanken. In der Nacht, wenn er wachlag und nichts als die Schläge der Turmuhren und die
Schritte und Rufe der Nachtwachen zu hören war, wünschte er sich den Tod. Er begriff nicht, wie jemand glauben konnte, er
habe Anna getötet. Aber dass sie es glaubten, dass niemand für ihn sprach, wurde ihm von Tag zu Tag gleichgültiger. Er hatte
sie nicht getötet, dennoch war er schuldig an ihrem Tod, weil er sie nicht beschützt hatte. Die Gesetze in den Büchern desRats waren unwichtig. Hier ging es um ein höheres Gesetz, und nach dem war er schuldig. Der Gedanke, dass ihm der Galgen sicher
war, schreckte ihn nicht.
So fühlte er sich auch nicht befreit, als sie ihn an diesem Abend, dem dreizehnten seit Annas Tod, aus dem Kerker holten.
Sie sagten ihm, Samuel Luther habe gestanden, Anna getötet zu haben. Doch das sei noch nicht sicher und bis dahin könne man
ihn nicht freilassen. Er werde jedoch die Fronerei verlassen können und bis zur Klärung des Falles im neuen Bürgergefängnis
im alten Winsertor am Meßberg arretiert. Die Stube sei groß und rein, es gebe einen Ofen, und wenn seine Familie ihn besuchen
und mit besserem Essen versorgen wolle, so sei das dort erlaubt.
Grabbe brachte zwei Eimer Wasser, ein hartes Stück Seife und saubere Kleider. Ein Rasiermesser, sagte er, seine Stimme klang
höflich und beinahe entschuldigend, habe der Weddemeister nicht erlaubt. Als er sich nicht bewegte, zerrten sie ihn auf die
Füße, zogen ihm die alten Kleider vom Leib und drückten ihm einen tropfnassen Lappen in die Hand. So begann er sich zu waschen,
zögernd zuerst, ruckhaft wie ein mechanischer Apparat. Doch als wüsche er mit dem Schmutz seines Körpers auch die oberste
Schicht seiner Schwermut ab, dachte er plötzlich daran, dass er von dem Fenster im Obergeschoss des alten Winsertorturms den
Himmel und die knospenden Bäume sehen könnte.
«Ins neue Bürgergefängnis? Der Paulung?» Polizeimeister Proovt lehnte sich weit in seinem Stuhl zurück, allerdings nicht wegen
der erstaunlich guten Behandlung eines immer noch des Mordes Verdächtigen durch dieHamburger Wedde, sondern wegen des wütenden Grimms im Gesicht des Mannes vor seinem Tisch. Proovt besann sich auf seine Manieren,
sprang auf und zog einen Stuhl heran. «Das ist in der Tat beachtlich», sagte er, «aber bitte, setzt Euch. Dann können wir
in Ruhe darüber sprechen.»
Zacharias Hörne zögerte. Dann setzte er sich, ohne den Polizeimeister aus den Augen zu lassen, und stützte die Hände auf die
Schenkel. Er sah nicht aus wie einer, der in Ruhe reden will, sondern wie ein Löwe kurz vor dem Sprung. Vor wenigen Minuten
erst, als er über den Altonaer Rathausmarkt gegangen war, hatte er gehört, dass Matthias Paulung die Fronerei verlassen hatte.
Es war nicht Proovts erste Begegnung mit dem Lotsenältermann, und nach Anna Hörnes Tod hatte er ihn natürlich besucht und
befragt, allerdings ohne Nennenswertes herauszubekommen. Familiensachen, das hatte deutlich in Hörnes Gesicht gestanden, gingen
nur die Familie, sonst niemanden und am wenigsten die Polizei etwas an. Die sollte den Mörder fangen, und der war nicht in
seiner Familie zu finden.
«Das darf nicht sein», sagte Hörne nun, «was die Hamburger sich da zurechtmauscheln. Die haben sich auf irgendeinem Schiff
einen Kerl gegriffen, und von dem behaupten sie jetzt frech, dass er unsere Anna auf dem Gewissen hat. Nur um den Paulung
rauszuhauen. So ist das, wenn man den Hamburgern einen Verbrecher überlässt. Der wird nicht aufgeknüpft, sondern verhätschelt.»
«Nun», sagte Proovt und räusperte sich. Wagner hatte ihm zwar einen Boten geschickt und berichten lassen, man habe auf einer
englischen Brigg einen neuen Verdächtigen gefasst, er bitte dringend um den Besuch desPolizeimeisters in der Fronerei. Aber das war erst eine halbe Stunde her, und Proovt hatte Dringlicheres zu tun gehabt, als
umgehend nach Hamburg zu eilen. Von Paulungs Verlegung hatte der Bote nichts gesagt.
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