Die ungehorsame Tochter
Becker. Es könnte aber so sein.» Der Schrecken in ihrem Gesicht, ihre zitternden Lippen verboten
ihm, auch noch von Strabenows Geschwätz zu berichten. «Beunruhigt Euch nicht mehr als nötig», versuchte er zu beschwichtigen.
«Womöglich versucht dieser Luther nur, seinen eigenen Hals aus der Schlinge zu ziehen, was natürlich vergeblich ist. Er hat
es getan, egal wer ihn beauftragt hat. Dennoch ist es nötig, den zu befragen, den er als seinen Auftraggeber beschuldigt.
Vielleicht erweist sich das alles als Hirngespinst. Doch nun sollten wir keine Zeit vergeuden. Es führen mehrere Routen nach
Sachsen, wisst Ihr, welche Klemens geplant hatte zu reiten?»
Das wusste Helena, die ihr Leben lang auf den Straßen kreuz und quer durch die deutschen Länder gereist war, genau. «Von Lüneburg
aus nicht über Magdeburg, wie wir stets reisen, sondern über Braunschweig und Halberstadt. Wegen der Straßenbanden, hat er
gesagt.»
«Also doch nicht über Magdeburg. Auch dann gibt esnoch mehrere Möglichkeiten. Hat er bestimmt nichts Genaueres gesagt?»
«Nein, nichts. Vielleicht weiß Jean mehr. Oder Filippo. Die beiden haben mehr mit ihm geredet als ich. Sie sind sicher in
der Theaterscheune.»
Zumindest für Filippo stimmte das nicht. Der kam die Treppe heraufgerannt, stieß die Tür auf und schwenkte etwas wie ein Fähnlein.
«Für dich, Helena, der erste Brief von Rosina.»
Verblüfft und amüsiert zugleich sah er zu, wie Helena ihm den Brief entriss und mit gierigen Fingern das Band löste.
Christian hatte kaum genug Zeit, Filippo den Grund seines Besuches zu erklären, als Helena den Bogen sinken ließ.
«Es geht ihr gut», sagte sie und küsste den verblüfften Filippo mit einem erleichterten Seufzer auf die Wange. «Ich werde
dir nie vergessen, dass du heute um Post gefragt hast, Filippo. Nie kam ein Brief zur besseren Zeit. Lest selbst.» Sie klopfte
mit dem Finger auf die wenigen Zeilen und reichte Christian den Brief. «Klemens hat die Route noch einmal geändert. Sie reiten
auch nicht über Halberstadt, sondern näher am Harz entlang. Über Wernigerode. Sie schreibt, Klemens werde dort in einer seiner
Minen gebraucht. Mein Gott, die Minen. Und der Harz. Wir fahren nie über den Harz, weil die Straßen zu gefährlich sind, das
Gebirge ist kalt und oft voller Nebel. Es ist ganz leicht, wenn das Pferd auf einem schmalen Pfad den Tritt verliert, ganz
leicht, in eine Schlucht zu stürzen. Warum führt er sie über diese Strecke, wenn nicht, um …»
«Nicht, Helena! Malt Euch nicht solche Schreckensbilderaus.» Christian nahm sie beim Ellbogen und drückte sie sanft auf die Bank. «Beruhigt Euch, ich brauche jetzt Eure Hilfe. Hört
Ihr? Ihr müsst mir helfen. Seht mich an. Gut. Wann hat Rosina diese Zeilen geschrieben?»
«Sonnabend. Dort steht es. Seht Ihr? Von irgendeinem Gasthof in der südlichen Heide. Es ist so seltsam, sie hat den Brief
nicht versiegelt, sondern nur schnell mit einem Faden gebunden. Und mit einem Bleistift geschrieben. Die Anschrift und auch
ihre Zeilen sind schon ziemlich verwischt. Das würde sie niemals tun, wenn alles in Ordnung wäre. Sie schreibt immer mit Feder
und Tinte, und ich weiß genau, dass sie ihren Schreibkasten mitgenommen hat. Niemals hat sie …»
«Ruhig, Helena.» Christian fühlte Ungeduld und legte streng seine Hand auf ihre Schulter. «Sicher musste sie sich sehr beeilen,
weil sie den Brief einem Postreiter mitgegeben hat, der nur schnell das Pferd wechselte. Da ist keine Zeit, Feder und Tinte
auszupacken. Also am Sonnabend in der südlichen Heide. Das heißt, sie kommen leidlich voran, aber nicht besonders schnell.
Sehr gut. Es ist knapp, aber noch möglich, sie einzuholen, bevor sie bei Wernigerode die gefährlichen Wege erreichen. Leider
habt Ihr recht. Wenn er tatsächlich der ist, der diesen Luther bezahlt hat, wird er die Strecke über den Harz gewählt haben,
weil es dort üble Höhenwege gibt, auf denen leicht ein Unfall zu inszenieren ist. Bis dahin ist sie ganz bestimmt sicher.
Jedenfalls kann ich es schaffen. Wisst Ihr, wie seine Mine heißt? Oder bei welchem Ort sie ist?»
«Darüber hat er nie gesprochen. Nur wie ertragreich, nicht wo diese Minen sind.»
«Ich werde sie trotzdem finden. Wenn Ihr erlaubt, nehme ich den Brief mit. Vielleicht sagt er mir unterwegsnoch etwas, das wir jetzt nicht erkennen. Ihr bekommt ihn später zurück.»
Filippo hatte still am Tisch gesessen und Helena und
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