Die ungehorsame Tochter
Christian zugehört. Als der sich erhob, schob auch er seinen Stuhl zurück
und sagte: «Es ist besser, auf einer solchen Jagd nicht allein zu sein. Ich werde mit Euch reiten. Selbst wenn einem von uns
etwas geschieht, ist dann immer noch der Zweite da, um zu helfen.»
Christian zögerte. Er kannte Filippo kaum, mehr als zwei oder drei Worte hatte er mit dem noch recht neuen Mitglied der Becker’schen
Gesellschaft nie gewechselt. Er war ihm bei aller Höflichkeit, die über die eines Fahrenden hinausging, stets fremd und unzugänglich
erschienen.
«Es wäre mir tatsächlich lieb, Begleitung zu haben. Aber ich muss sehr schnell reiten, ich bin darin geübt, und mein Pferd
ist eines der schnellsten. Ich werde es nur gegen ein frisches tauschen, wenn ich ein beinahe ebenso gutes bekomme. Wenn Ihr
langsamer seid, werde ich nicht warten.»
«Ich bin nicht immer nur auf unseren Karrenpferden geritten, Monsieur. Schnelle Ritte über schweres Gelände sind mir vertraut.
Auf mich werdet Ihr gewiss nicht warten müssen. Und ein Pferd? Habt Ihr keines mehr in Eurem Stall?»
«Keines, das so schnell und ausdauernd wäre. Ich könnte Jeremy Matthew fragen, sein englischer Rappe ist ein formidabler Renner,
aber er ist nicht in der Stadt. Sonst hätte ich ihn auch gebeten, mich zu begleiten. Wir müssen eines für Euch mieten. Im
Mietstall beim Steintor stehen einige recht schnelle Pferde, mit etwas Glück bekommen wir ein wirklich gutes.»
«Kummerjahn», rief Helena und sprang auf, «Pastor Kummerjahn hat das schnellste Pferd, das ich je gesehen habe.»
Christians Einwände, ein Pastor besitze kaum ein solches Pferd, wischte sie mit einer ungeduldigen Handbewegung weg. Nun sei
keine Zeit für Erklärungen, dieser Pastor habe nun mal so eines. Auch sei er keiner, der nur mit Gebeten großzügig sei, für
diesen Zweck werde er es gerne ausleihen und bis zum Pfarrhaus auf dem Hamburger Berg sei es nicht weit.
Gabriel Kummerjahn, für sein würdiges Amt ein ungewöhnlich rasanter Reiter, war nicht ganz so begeistert, seinen eleganten
Holsteiner auszuleihen, besonders für einen solchen Gewaltritt, wie Helena versichert hatte. Nach wenigen Worten der Erklärung
jedoch führte er seine Besucher schnurstracks in den Stall. Er versorgte Filippo mit einer besseren Joppe und einer ordentlichen
Portion guter Ratschläge für die Behandlung seines sensiblen Tieres, worüber er ein hier wirklich angebrachtes Gebet für den
Erfolg dieses Unternehmens völlig vergaß. Bald darauf stand er mit Helena vor der Kirche und sah den beiden davonsprengenden
Reitern nach.
Helena war nun voller Zuversicht. Erst als sich alle Mitglieder der Becker’schen Gesellschaft am Abend nach der Vorstellung
bei Wein und Brot um den stets zu kleinen Tisch drängten, wuchs ihre Sorge neu. Aber nein, rief Jean, nicht er habe diesen
verdammten Klemens angeschleppt. Das sei Filippo gewesen. Der sei eines Tages zu ihm gekommen und habe diesen jungen Mann
mitgebracht, der behauptet hatte, Gregor Beaufort zu heißen und ein dilettierender Dichter zu sein.
KAPITEL 12
DIENSTAG, DEN 21. MARTIUS,
ABENDS
Die letzte Nacht hatten sie in Braunschweig verbracht. Klemens kannte die Stadt, es war nicht nötig, nach dem Weg zu fragen.
Er ritt voraus und führte Rosina ohne den geringsten Aufenthalt bis zu einem Gasthof nahe dem Gewandhaus am Altstadtmarkt.
Der Tag war nichts als ein langer, anstrengender Ritt gegen den Wind gewesen, Rosina sehnte sich nach einem guten Abendessen
und einem weichen Bett. Sie hatte keine Augen für die prächtigen Fassaden aus Fachwerk und Steinquadern, für die Arkaden und
das Schnitzwerk, die vorspringenden Erker, die Lauben und ausschweifenden Voluten.
Das alte reiche Braunschweig bot Reisenden jede Art von Gasthof. Auch wenn sie nicht erwartet hatte, dass Klemens sie zu einer
dieser düsteren Herbergen führen würde, in denen sie die letzten Nächte verbracht hatten, war sie erstaunt, als er vor einem
fünfgeschossigen Haus mit blitzenden Fenstern und reich geschnitztem Giebel aus dem Sattel sprang. Sie war sicher, niemals
hatte eine fahrende Komödiantin im Gasthof
Zum Goldenen Löwen
logiert, Wand an Wand mit vornehmen, zumindest reichen Besuchern der Stadt. Sogleich eilten drei Diener aus dem Portal. Zwei
führten ihre Pferde in den Stall, der dritte geleitete sie mit höflichen, aber nicht zu höflichen Verbeugungen in das Entree.
Klemens schrieb seinen Namenin das
Weitere Kostenlose Bücher