Die ungehorsame Tochter
Gästebuch und erklärte, sein Begleiter sei sein Cousin, Emmerich Lenthe. Wie schon die Wirte zuvor zeigte auch dieser
nicht das geringste Misstrauen.
Nach einem heißen Bad – zwei Diener hatten eine kleine, hochlehnige Wanne und viele Kannen dampfenden Wassers heraufgetragen
– bürstete Rosina ihren Rock aus, nahm das letzte reine Hemd, Kniehose, Strümpfe und Schuhe aus dem Reisesack und band ihr
Haar im Nacken mit einer schwarzen Schleife. Als sie sich angekleidet hatte, betrachtete sie sich für einen Moment im Spiegel,
dachte an die koketten Blicke der Mägde und fragte sich, während sie schon die Treppe zum Speisezimmer hinuntereilte, wieso
nur niemand bemerke, dass sie kein Mann war.
Klemens erwartete sie an einem Tisch nahe dem Kamin. Er trug ein reines Hemd, auch seine Kleider waren gebürstet, er hatte
sich rasieren und frisieren lassen, niemand würde vermuten, dass er seit Tagen über das Land ritt. Rosina setzte sich ihm
gegenüber, sah den dreiarmigen Tischleuchter aus schwerem Silber, Tischtuch und Mundtücher aus gebleichtem Leinen und die
feinen Gläser. Klemens hatte Rotwein bestellt und erklärte, heute werde farciertes braunes Rindfleisch, gefüllt mit einem
Ragout von jungen Tauben, serviert, dazu gebe es gedünsteten Savoyenkohl und eine Trüffelsoße, mit Zitronensaft gewürzt. Er
hoffe, es sei ihr recht.
Die Mahlzeit war das Köstlichste, was Rosina seit langer, seit sehr langer Zeit gegessen hatte, und beinahe bedauerte sie
ihren Heißhunger, der es ihr unmöglich machte, die Speisen so bedächtig zu genießen, wie es angemessen gewesen wäre. Als die
Teller und Schüsseln abgeräumt waren und nur noch das Dessert, eine leichteEiercreme mit Orangen und Succade, darauf wartete, verspeist zu werden, wagte sie endlich ihre erste Frage. Abend für Abend
hatte sie sich vorgenommen, Klemens um Auskunft zu bitten, immer hatte sie einen Grund dagegen gefunden. Und weil sie die
Fragen nach ihrem Vater, die ihr doch am dringlichsten waren, nicht gleich stellen mochte, fragte sie ihn zuerst nach seinem
Leben. Wie es ihm in Göttingen gefallen habe, ob es seiner Mutter gutgehe und wie lange sie beide überhaupt schon in dem Haus
nahe Hardenstein lebten.
Wenn er sich auch nicht gerade redselig zeigte, gab er doch auf alle Fragen Antwort. Seit sieben Jahren lebten er und seine
Mutter bei Alexander Lenthe. Er hatte zunächst in Leipzig studiert und war im zweiten Jahr nach Göttingen gewechselt.
«Warum?», fragte Rosina.
Er zuckte die Achseln und lächelte. «Einfach um mehr von der Welt zu sehen», sagte er dann. «Göttingen ist nicht Rom, aber
immerhin. Und Rom», wieder lächelte er, «bleibt mir immer noch. Auch Florenz und Paris. London. Später wird genug Zeit für
die
Grand Tour,
für die große Reise, sein.»
Er nahm einen Löffel von der Creme, und Rosina überlegte, was dieses «Später» für ihn bedeute. «Mein Vater muss Euch sehr
dankbar sein, weil Ihr Eure eigenen Pläne für ihn vernachlässigt.» Sie sah ihn fragend an, aber er schwieg und griff nach
seinem Glas. «Ich war sicher, er würde längst wieder verheiratet sein», fuhr sie fort. «Warum hat er keine neue Ehe geschlossen?»
«Weil er sich nach der Ehe mit Eurer Mutter keine andere vorstellen konnte», wollte sie hören, «weil es für ihn keine andere
gab.»
«Sicher nicht aus Mangel an geeigneten Bewerberinnen», sagte Klemens. «Bei der einen oder anderen war er in starker Versuchung,
einmal stand er wohl auch kurz vor einem Ehevertrag. Aber seit meine Mutter seinem Haus vorsteht, sah er keinen Anlass mehr.
Er ist kein junger Mann, er liebt es, zurückgezogen zu leben. Warum also hätte er, nach seinen Erlebnissen, noch einmal die
Last und Unwägbarkeiten einer Ehe auf sich nehmen sollen?»
Rosinas Gesicht begann zu glühen, als habe er sie geohrfeigt. Neue Gäste betraten das Speisezimmer, die Kerzen flackerten
im Windzug, und Klemens’ Augen erschienen plötzlich dunkel.
«Als wir in sein Haus kamen», fuhr er fort, «lag dort vieles im Argen. Ohne uns …»
Er griff nach seinem Mundtuch, tupfte sich die Lippen ab, und seine Augen folgten den beiden eleganten Paaren, die sich an
einem Tisch am anderen Ende des Raumes niederließen. Rosina sah niemanden als Klemens, sie versuchte in seinem Gesicht zu
lesen, aber es gelang ihr nicht. Sie sah nur Strenge, aber das konnte nicht sein. Er war ihr Cousin, er hatte sie mühevoll
gesucht, und wenn er sie
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