Die ungehorsame Tochter
seinem Komplizen zu Hilfe zu kommen? Was, wenn …
Da sah er ihn vor sich. Behutsam, doch schnell und sicher lenkte er sein Pferd über den Pfad, der nun plötzlich wieder leicht
bergab führte. Als Filippo Pferd und Reiter hinter sich hörte, drehte er sich halb um, für einen Moment nur, dann heftete
er seinen Blick wieder auf den steinigen Boden vor den Hufen seine Pferdes.
«Habt Ihr es auch gehört?», rief er. «Das war ein Schrei.»
Christian antwortete nicht, und Filippo schien auch keine Antwort zu erwarten. Schweigend ritten sie weiter, so schnell es
der unsichere Boden zuließ und somit viel zu langsam. Der Weg begann etwas breiter zu werden und wieder anzusteigen, als sie
ein lautes Wiehern hörten. Sie entdeckten das Pferd sofort, es stand angebunden auf dem Weg hoch über der anderen Seite der
Schlucht und warf unruhig den Kopf; von seinen scharrenden Hufen gelöstes Geröll polterte die Felsen hinab. Ein zweites, Christian
glaubte den Fuchs seines Vaters zu erkennen, stand ein wenig abseits, den Kopf gesenkt, als lehne es sich müde gegen die Felsen.
Endlich entdeckten sie auch einen menschlichen Körper. Er lag auf einem schmalen Absatz im Fels etwa fünfzehn Fuß unterhalb
des Weges, die Hände umklammerten einen dünnen, aus den Steinen wachsenden Stamm. Das Band des Zopfes hatte sich gelöst, durch
die dicken blonden Locken sickerte Blut. Es war nun wieder ganz still. Nur am Boden der zerklüfteten Schlucht, wohl siebzig
Fuß unter dem Felsabsatz, toste der vom Schmelzwasser hoch über das Geröll aufgischtende Bach.
Wieder war keine Zeit zu streiten, die beiden wechselten einen Blick, und Christian beschloss, Filippo zu vertrauen. Jeder
der beiden tat, was er für richtig hielt. Filippoglitt vom Sattel, rutschte, sprang und kletterte zum Bach hinunter, fand hinter dornigem Gestrüpp und Schwarzerlen eine Stelle,
um ihn auf schweren Steinen zu durchqueren, und machte sich auf der anderen Seite an den Aufstieg. Christian, der über viele,
aber gewiss über keine akrobatischen Talente verfügte, lenkte sein Pferd zurück zur Weggabelung und ritt, wie er es zuerst
gewollt hatte, den anderen Weg hinauf. Rosinas Hände hatten das Bäumchen umklammert gehalten, jedenfalls glaubte er das aus
der Entfernung erkannt zu haben, also war sie bei Bewusstsein.
Als er die Stelle erreichte, an der Klemens’ Pferd immer noch festgebunden stand, hörte er schon die Stimmen.
«Halt dich fest, Rosina», sagte Filippo, «halt dich um Gottes willen weiter fest. Nicht ohnmächtig werden, dafür ist später
Zeit. Du musst tief atmen. Wie beim Tanzen. Es ist ganz einfach. Ja, so ist es gut. Wir holen dich jetzt von diesem Felsen,
sei ganz ruhig …» Er redete und redete, sprach zu ihr wie zu einem panischen Pferd, und das matte, kurze Flüstern verriet Christian, auch
wenn er sie nicht verstehen konnte, dass Rosina antwortete.
Er löste hastig das Seil vom Sattel, legte sich auf den Bauch und sah über den Felsrand in die Schlucht hinunter. Er verstand
nicht, wie es Filippo gelungen war, die steile, zerklüftete Wand in so kurzer Zeit zu ersteigen.
In diesem Moment sah Filippo zu Christian hinauf. «Habt Ihr das Seil?», rief er. «Durch die Schlucht schafft sie es nicht,
Ihr müsst sie hochziehen. Sucht Euch an der Kante einen breiten, glatten Stein, um das Seil darüberlaufen zu lassen.» Er fing
mit der linken Hand das Ende des schon fallenden Seils. «Und zieht um Gottes willenlangsam. Lasst ihr Zeit, damit sie sich mit Füßen und Händen abstützen kann. Aber nicht
zu
langsam. Sonst …»
«Sonst fällt sie», hatte er sagen wollen, aber er verschluckte die Worte. Der Gedanke schon war schrecklich genug.
Später erschienen Christian die endlosen Minuten, bis Rosina sicher auf dem schmalen Plateau lag, wie Stunden. Noch einmal
genauso lange empfand er die Zeit, die Filippo brauchte, um wieder hinab in die Schlucht, durch den tosenden Bach und hinauf
zu seinem Pferd zu steigen, um endlich zu ihnen auf die andere Seite zu reiten.
Gegen Mittag zog eine seltsame Karawane an den Hütten der Köhler vorbei. Drei junge Männer, alle schmutzig, einer gar mit
zerrissenen Kleidern und wirren, über dem linken Ohr blutverkrusteten blonden Locken, ritten wortlos und behutsam, als gehe
es über Glas, auf dem Pfad von der toten Mine über ihre Lichtung und auf den Weg nach Wernigerode. Ein viertes Pferd, gezäumt
und gesattelt, aber ohne Reiter, führte
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