Die ungehorsame Tochter
Wohnstube ein. Die Körbe, hatte Helena gesagt, fänden genug Platz
unter Manons Bett, da gehöre solcherart Krimskrams hin. Manon fand zwar nicht, dass ihre Schätze, bunte Bänder, Kämme und
Tücher, zwei zerlesene Romane, ihre alte Stoffpuppe und ähnliche Kostbarkeiten, in ein staubiges Versteck verbannt werden
durften, doch die Entscheidung der Prinzipalin duldete keinen Widerspruch. Jedenfalls wenn es um so belanglose Dinge wie Ordnung
und die Definition von Krimskrams ging.
Dennoch hatte sich das Durcheinander in dem Raum, den die Becker’schen in der Altonaer Wohnung als ihre gute Stube bezeichneten,
kaum verringert. Solange die beiden Korbtruhen, von denen wirklich niemand wusste, wo sie noch Platz finden sollten, nicht
geliefert waren, würde das auch so bleiben. Immerhin musste Rosina nun nicht mehr fürchten, eine so kleine Ungeschicklichkeit
wie eine ausholende Geste könnte kostbare Kostüme ruinieren. Die Perücken, Handschuhe, eben alles, was auf dem Tisch aufgehäuft
gewesen war, befand sich nun in Sicherheit.
Rosina griff nach einem Leinfetzen und putzte sorgfältig die Tintenreste von der Feder. Während sie die letzten Zeilen ihrer
Übersetzung noch einmal überflog,tasteten ihre Finger im Schreibkasten nach dem Federmesser. Vergeblich. Das Messerchen, hauchfein und scharf genug, die Federn
ganz ohne Scharten zuzuschneiden, war nicht an seinem Platz. Ärger stieg in ihr auf wie eine heiße Welle. Sie liebte ihr Leben
bei den Komödianten, nur manchmal, besonders an Tagen wie diesem, wünschte sie sich sehnlich viel Platz. Und viel Einsamkeit.
Zeit und Raum, die nur ihr gehörten. Das waren Tage voller Ungeduld, Tage, an denen sie sich vorstellte, einfach wegzugehen,
irgendwohin in ein anderes Leben.
Sie schloss die Augen, atmete tief und lehnte sich fest gegen die hohe Rückenstütze ihres Stuhls. Der abgewetzte Samt hielt
ihren Rücken wie eine sanfte Hand, der eilige Herzschlag des Zorns beruhigte sich, und sie versuchte zu lächeln. Lächeln,
das hatte sie an einem solcher Tage herausgefunden, half in diesen Momenten.
Sie öffnete die Augen, entdeckte das Messer, das sie in Manons oder Fritz’ Körben wähnte, halb unter ihren Papierstapeln verborgen,
und begann die Feder nachzuschneiden. Gewiss lag es nur an dem Nebel, an der eigentümlich tauben Stille, die er über die Stadt
legte, dass sie in den letzten Nächten so seltsame Träume gehabt hatte. Die Bilder einer Zeit, an die sie sich sonst beharrlich
weigerte zurückzudenken, waren so deutlich gewesen, dass sie beim Erwachen im Morgengrauen die behutsamen Schritte auf der
Treppe für die ihres Vaters gehalten hatte. Erst Manons Schlafgemurmel hatte sie in die Gegenwart zurückgeholt.
Sie prüfte die frisch zugeschnittene Feder mit den Fingerspitzen, tauchte sie in das Tintenfässchen und beugte sich wieder
über ihre Arbeit. Monsieur Jean-Jacques Rousseaus tändelndes Schäferspiel trug den hübschenTitel
Der Dorfwahrsager.
Schon der allein, hatte Jean versichert, werde dem Publikum gefallen.
Den Namen des Autors hingegen wollte er nur sehr klein auf dem Theaterzettel vermerken. Immerhin war es möglich, dass der
eine oder andere ihn kannte und sich davon abschrecken ließ. Monsieur Rousseau war nun mal ein anstrengender Denker und ein
trübsinniger, gar zu eigenwilliger Mensch. Obwohl sein Singspiel dem französischen König so gut gefallen hatte, dass er den
komponierenden Poeten trotz seiner unbequemen Gedanken ohne Zweifel zum Hofkomponisten erhoben hätte, hatte der es sich verscherzt.
Zur Premiere vor dem fünfzehnten Ludwig samt seinem Hofstaat erschien er schlampig wie ein Gassenkerl, der am nächsten Tag
gewährten Audienz blieb er gleich ganz fern. Nun, so hieß es, hungerte er wieder und verdiente sein knappes Brot mit Notenabschreiben.
Rosina mochte diesen Teil ihrer Arbeit ganz besonders. Sie liebte das Spiel mit den Worten, die Suche nach den deutschen Entsprechungen,
die dem Text noch seine eigene Melodie ließen, die Freiheit, die Handlung so abzuändern, dass sie für die kleine Zahl und
die begrenzten Talente der Becker’schen Gesellschaft passte. Und für den Geschmack des hiesigen Publikums. Altona war nicht
Paris. Was Ludwig XV. und Madame Pompadour genug amüsiert hatte, dem Schöpfer dieser kleinen Oper um ein verliebtes Hirtenpaar und einen Dorfpropheten
150 Louisdor zu verehren, verführte die Bürger an Elbe und Alster noch lange nicht zu
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