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Die ungehorsame Tochter

Die ungehorsame Tochter

Titel: Die ungehorsame Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Mütter. Sie lehren ihre Töchter alles, was sie können und
     wissen. Dann hat sie dich gewiss auch das Singen gelehrt? Natürlich hast du diese große Gabe von Gott und der Natur, wobei
     die Natur selbst auch eine Gottesgabe ist, aber ich hatte schon immer das Gefühl, dass deine Stimme eine ganz besondere Übung
     erfahren hat.»
    Er sah Rosina an, sah die Veränderung in ihrem Gesicht und räusperte sich unbehaglich. «Ja, Übung», fuhr er fort. «Aber gewiss
     täusche ich mich. Es tut wirklich nichts zur Sache. Die Natur ist die beste Schule. Die Natur und das Singen lehren das Singen.
     Oder hat vielleicht doch, ich meine, du musst es natürlich nicht erzählen, hat nicht doch deine Mutter   …»
    Rosinas beharrliches Schweigen über ihre Vergangenheit war von den Komödianten stets akzeptiert worden. Auch von Jean, der
     seine Nase sonst in alles steckte, was ihn nichts anging. Viele der Fahrenden hatten ein altes Leben abgestreift und zogen
     mit neuem Namen über die Straßen. Manche freiwillig, für andere war es der einzige Ausweg. Wer da viel fragte, blieb bald
     allein. Für diesmal wurde Rosina die Suche nach einer Antwort erspart.
    Die Tür flog auf, und mit einem Schwall kalter Luft stob Helena in den Raum, ließ den zum eiligen Treppensteigen gerafften
     leuchtend blauen Rock fallen, zog ihrnebelfeuchtes Schultertuch mit den glänzenden roten Fransen vom Kopf und warf es mit spitzen Fingern auf die Truhe.
    «Rosina», rief sie, «stell dir vor – Jean, mein Lieber, und Filippo. Was tut ihr hier? Ich denke, ihr probt mit Fritz und
     Manon. Könntest du bei Melzer eine Kanne Kaffee bestellen, Jean, nur eine klitzekleine Kanne Kaffee? Ich bin so erschrocken,
     eine Tasse Kaffee würde mich retten, unbedingt.»
    Rosina fand, dass Helena viel eher vor Aufregung zu platzen schien, als vor Schreck ermattet zu sein. Tatsächlich, schon bevor
     Jean den Wunsch seiner Frau als Befehl an Filippo erteilte, gab Helena den Grund ihrer Erregung oder ihres Schreckens, je
     nachdem, preis.
    «Es ist furchtbar. Habt ihr es denn nicht bemerkt? Von hier oben», sie trat eilig ans Fenster, «ja, von hier hätte man es
     gut sehen können, obwohl es natürlich unten viel besser zu sehen war. Meine Güte, bin ich froh, dass ich so etwas nicht alle
     Tage erleben muss, wirklich froh.»
    «Was, Helena? Was war besser zu sehen? Was willst du nicht alle Tage erleben?»
    «Was? Eine Tote natürlich. Eine Wasserleiche. Nicht, dass sie schon ganz aufgedunsen war wie dieser Diener, den sie in Dresden
     aus der Elbe gezogen haben. Erinnerst du dich nicht, Rosina? Ganz aufged   …»
    «Ja! Ich erinnere mich genau. Aber nicht gerne.»
    «Eine Tote?» Jeans Augen blitzten plötzlich. «In der Elbe?»
    «In der Elbe, ja. Eine ganz junge Frau.» Helenas gerötetes Gesicht wurde ein wenig bleicher, als begriffe sie erst jetzt,
     was geschehen war. «Dem Leben so ein Ende zu setzen. Und dann noch im treibenden Eis. Nun ja, dieSchollen sind schon dünn und nur noch wenige, aber doch Eis.»
    Sie hatte beim Seifensieder am Fischmarkt Unschlittkerzen für die Bühnenbeleuchtung bestellt. Auf dem Rückweg, schon beinahe
     vor dem Kaffeehaus, bemerkte sie die Menge an den Hafenvorsetzen bei dem neuen Packhaus der Heringscompagnie. Die hätte sie
     kaum gekümmert, ständig liefen auf der Elbstraße Menschen zusammen, weil sich zwei prügelten oder ihre Hunde aufeinanderhetzten,
     weil ein neues Gerücht debattiert oder eine Harfenistin bewundert werden musste, doch diese Versammlung kam ihr seltsam vor.
     Die Menschen standen da, reckten die Hälse, drehten ihre Mützen in den Händen, aber – das vor allem – sie schrien nicht herum,
     verursachten nicht den geringsten Lärm. Sie standen einfach da, eng beieinander, und schwiegen. Dennoch schien die Menge zu
     vibrieren.
    Es gelang ihr nicht, sich durch die Menschenmauer zu drängen, so kletterte sie auf einen Haufen dicker Taue an der Wand des
     Packhauses, um über die Köpfe sehen zu können, und nun sah sie es auch. An den Vorsetzen hatte ein kleine Schaluppe festgemacht,
     ein Boot ohne Mast, für vier oder sechs Riemen. Auf dem hölzernen Steg der Anlegestelle lag ein Mädchen, ihre Augen waren
     geschlossen und ihr Gesicht bleich wie, ja, wie das einer Toten. Die dunkle Wolle ihres Kleides schimmerte schwarz vom Wasser,
     aus dem Gewirr ihrer lockigen Haare liefen Rinnsale, die auf den unebenen Bohlen zu kleinen Pfützen wuchsen. Ihre Füße waren
     nackt.
    «Warum hilft denn

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