Die ungehorsame Tochter
niemand?» Die schrille Stimme des jungen Mannes, der neben der Toten kniete, durchbrach die Starre des Moments.
«So helft ihr doch.» Er griff nachder Hand des Mädchens und begann sie zu reiben und zu kneten. «Sie ist so kalt», flüsterte er, «sie muss doch frieren.»
Er zog seine Jacke aus und breitete sie zärtlich über die nasse Gestalt. Die Hoffnungslosigkeit in seinen Augen zeigte allen,
die ihn und das Mädchen anstarrten, dass er wusste, warum niemand half, dass die Jacke nichts nützen würde. Hier gab es nichts
mehr zu helfen.
«Lass doch, Berno.» Der Mann, der kurz zuvor das Boot vertäut hatte, berührte den anderen sanft an der Schulter. «Dedje ist
schon unterwegs zu ihrem Vater. Wir wollen sie jetzt hier wegbringen. Steh auf», sagte er lauter, als der Mann, den er Berno
genannt hatte, nur die Hand des toten Mädchens fester umklammerte und sich wie ein Kind neben ihr zusammenkauerte. Schließlich
schob er ihn behutsam beiseite, hob das Mädchen auf und trug sie davon. Zwei weitere, die mit im Boot gewesen waren, zogen
Berno auf die Füße und mit in das Packhaus, in dem der andere mit der Toten verschwunden war.
Helena kletterte von den Seilen und fühlte sich plötzlich wie auf der Bühne. Als werde in einer Szene, die schon geraume Zeit
ihren Lauf genommen hatte, endlich der Vorhang hochgezogen, kam Leben in die Menge.
«Eine Schande», rief jemand. «So ein Unglück», jemand anderes. Alle redeten und flüsterten durcheinander. Helena hörte deutsche,
dänische, holländische, auch ein paar portugiesische und englische Wortfetzen. Das Mädchen sei gewiss aus Hunger ins Wasser
gegangen. Aus Hunger? So dünn habe sie nicht ausgesehen, brummte ein hagerer Einbeiniger auf Krücken. Nein, rief eine Frauenstimme,
eine Schande habe sie im Leib, das sei doch wohl klar. Warum sonst sei der unter den nassen Kleidernso gewölbt gewesen? Ihr Leib gewölbt? Dann sei es vielleicht gut, dass sie tot sei, ihr Vater schlüge sie sonst sowieso tot.
Wer dieser Vater war, konnte Helena nicht in Erfahrung bringen. Wen sie auch fragte, wandte sich eilig ab.
«Ihr solltet euch schämen», übertönte plötzlich eine helle Mädchenstimme zornig die anderen, «das hätte sie nie getan. Niemals.
Es war ein Unglück.»
Wieder tönten die Stimmen durcheinander, keiften und brummten, riefen und raunten, und plötzlich, als habe eine Windbö sie
erfasst, trieb die Menge auseinander, wurde zu noch streitenden Grüppchen, zu eilig davonlaufenden Einzelnen, verschwammen
alle mit den Wagen, Kutschen und Karren, den Hühnern, Hunden und anderen Menschen auf der Straße, die dieses schreckliche,
dieses wunderbar aufregende Ereignis am Ufer versäumt hatten. Die Nachricht von der Toten aus der Elbe würde flink wie ein
Schwarm Spatzen durch die Stadt fliegen.
«Es ist so traurig», sagte Helena, stellte ihre noch halbvolle Tasse Kaffee, den Filippo mit seltener Geschwindigkeit aus
Melzers Gaststube heraufgeholt hatte, auf den Tisch und strich sich mit den Handrücken über die Augen. «Dort unten habe ich
gar nicht gemerkt, wie traurig es ist.»
«Und niemand wusste, wer sie ist?», fragte Jean.
«Alle schienen es zu wissen. Zumindest viele. Ganz sicher die Männer im Boot, die sie im Fluss gefunden hatten. Der eine heulte
wie ein Kind, und die anderen sahen auch nicht unbedingt gleichgültig aus. Einer war geradezu grün im Gesicht. Aber mir wollte
es niemand sagen. Mir», seufzte sie, «einer Fremden.»
«Macht nichts, Helena.» Rosina erhob sich, trat ans Fenster und starrte in den trüben Tag. «Warte eine halbe Stunde, dann
kommt Titus. Ganz gewiss nimmt er nicht die Treppe, ohne vorher eine kleine Pause bei Melzer einzulegen. Er wird mehr und
auch anderes wissen als alle, die dort unten am Hafen dabei waren. Da kommt er schon.»
Doch die Schritte, die die Treppe heraufstapften, gehörten Rudolf. Die Windmaschine sei nun repariert und heule wieder tüchtig.
Die stürmischen Szenen, die in den letzten Tagen aus allen Stücken gestrichen worden waren, könnten wieder stattfinden. Und
ob Jean nun entschieden habe, welche Farben die Wolken der Himmel in Monsieur Rousseaus Oper haben sollten? Rosenfarbene oder
doch nur weiße? Himmel mit weißen Wolken seien ja immer da. Für rosenfarbene jedoch sei es höchste Zeit, mit den Malarbeiten
zu beginnen. Die Farben trockneten bei diesem Wetter so schwer.
Von einer Toten im Fluss hatte Rudolf nichts gehört. Was alle
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