Die ungehorsame Tochter
abgerissen wurde, nicht lange vorher, aber doch am selben Abend. Sie hat sonst keine Verletzungen, die auf einen
Überfall schließen lassen. Vielleicht ist sie einfach auf den bei Nacht gewiss noch vereisten Vorsetzen ausgerutscht und ins
Wasser gefallen. Wobei zu fragen bleibt, was sie bei Nacht dort gemacht hat. Besonders so nah an der Kante. Ich nehme jedenfalls
an, dass sie hier ins Wasser gefallen oder gestoßen worden ist. Aber ich kenne die seltsamen Strömungsverhältnisse der Elbe
nicht. Die ändern sich ja ständig mit Ebbe und Flut, und der Wind macht auch noch Sperenzien. Mal fließt das Oberwasser anders
als das tiefere, mal wieder nicht. Wenn das hier von Bedeutung ist, solltet Ihr den Hafenmeister fragen. Oder, noch besser,
einen der Lotsen.»
Proovt nickte kurz. Darum würde er sich später kümmern. «Die Kette wurde am selben Abend abgerissen, sagt Ihr? Also ist sie
nicht heute Morgen gestorben?»
Der Arzt schüttelte entschieden den Kopf. «Es muss schon gestern Abend passiert sein. Selbst wenn man bedenkt, dass das Wasser
den Körper kühl gehalten hat. Andere Verletzungen, feinere, konnte ich in diesem trüben Licht noch nicht entdecken.»
«Gewiss, das Licht.» Der Polizeimeister hob den Kopf, als sehe er nach den Fenstern, aber sein Blick ging weiter in eine ungewisse
Ferne und kehrte schließlich zu Dr. Hensler zurück. «Wie weit geht Eure Schweigepflicht, Doktor? Verzeiht, ich will Euch nicht beleidigen, ich habe keinen Anlass,
Euch für schwatzhaft zu halten. Ich möchte nur wissen, ob es mit Euren Pflichten vereinbarist, über die wahre Ursache dieses Todes vorerst zu schweigen.»
«Ich werde nicht mit der Schelle herumlaufen und die Ergebnisse meiner Arbeit ausrufen. Aber ich muss einen Bericht schreiben,
und Ihr wisst, wie das ist. Den liest der Magistrat, der Bürgermeister, der Präsident, einer von ihnen erzählt es unter dem
Siegel der Verschwiegenheit seiner Frau oder seiner Liebschaft, ein Diener hört zu, der erzählt es einer Zofe, die flüstert
es der Köchin zu, immer unter dem unnützen Siegel der Verschwiegenheit – und schon weiß es die ganze Stadt.»
Der Polizeimeister betrachtete seine Fußspitzen, zupfte sich ein Stäubchen vom Ärmel und sagte schließlich: «So geschieht
es gewöhnlich. Wenn Ihr nun ein wenig länger für den Bericht brauchtet? Ihr habt zurzeit schrecklich viel zu tun, das weiß
jeder, die Blattern im Zuchthaus …»
«… und die Halsbräune in den Armenhäusern. Ich verstehe, was Ihr meint. Verratet Ihr mir auch, warum ich bei all der vielen Arbeit
keine Zeit für meinen Bericht finden soll? Und was ich tun soll, wenn mich einer der Herren Beamten auf der Straße trifft
und fragt?»
«Oh, das ist einfach. Es wird Euch niemand fragen. Wir werden nichts Genaues sagen, und das auf eine Weise, die jeden glauben
lässt, es sei ein Unfall gewesen. Falls doch einer fragt, könnt Ihr immer sagen, der Polizeimeister erlaube Euch nicht, Auskunft
zu geben. Ich weiß, dass Euer Vorgänger Struensee sich einen Teufel um das geschert hat, was der Polizeimeister sagte oder
meinte. Aber wir sind beide noch nicht lange in unserem Amt. Also wird sich niemand wundern. Ich wäre Euch besonders verbunden,
wenn Ihr auch den Vater des Mädchensnicht aufklärtet. Überlasst ihn wie alles andere einfach mir.»
«Nun gut. Ihr werdet wissen, warum Ihr es so wollt. Ich wiederum wäre Euch sehr dankbar, wenn es am Ende nicht hieße, der
neue Stadtphysikus sei zu dumm und ungeschickt, einen gewaltsamen Tod zu erkennen.»
«Darauf werde ich achten, das verspreche ich Euch. Eure – nennen wir es mal Diskretion – wird bei dieser Untersuchung sehr
hilfreich sein.» Er hielt inne und blickte zur Tür. «Was ist denn da draußen los?»
Die Stimmen, ohnehin in den letzten Minuten ruhiger geworden, erstarben völlig, und gleich darauf wurde die Tür aufgestoßen.
Diesmal nicht nur einen Spalt, sondern weit und heftig, und herein trat Zacharias Hörne. Er sagte nichts, er stand da, das
zerfurchte Gesicht trotz der von der Kälte geröteten Haut wie aus italienischem Marmor gemeißelt, und starrte auf das Tuch,
das seine tote Tochter Anna bedeckte.
KAPITEL 4
FREITAG, DEN 10. MARTIUS,
GEGEN MITTAG
Titus fand, man sollte in diesen Tagen eine schöne junge Frau nicht alleine durch die dunklen Gassen bei Hamburgs Hafen gehen
lassen. Außerdem hatte er schon lange nicht mehr seinen alten Freund Jakobsen, den
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