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Die ungehorsame Tochter

Die ungehorsame Tochter

Titel: Die ungehorsame Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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war, hatten Proovt erreicht, kaum
     dass er die Wache verlassen hatte.
    «Das kann ich Euch nicht sagen, ich habe das Mädchen nicht gekannt.»
    «Natürlich nicht.» Proovt nickte höflich. «Ich meine einen anderen Grund.» Er hüstelte, tupfte mit dem Tuch über die Lippen
     und steckte es umständlich zurück in die Tasche. «Einen konkreten, einen, nun ja, weiblichen.»
    «Ihr meint, ob sie schwanger war? Nein, ganz gewiss nicht. Es sei denn seit gestern oder vorgestern. Ich werde sie später
     genauer untersuchen, aber in dieser Sache bin ich recht sicher.»
    Proovt schien erleichtert, und Hensler verbiss sich ein Grinsen. Der junge Polizeimeister war erst seit einem guten Jahr im
     Amt. Er machte seine Sache nicht schlecht, darin waren sich die Altonaer und sogar der Magistrat einig, aber er war der Sohn
     eines Professors der Moral und schönen Wissenschaften, seine Mutter, so hieß es, stamme gar aus holsteinischem Landadel und
     schreibe Gedichte, die allerdings noch nie jemand gesehen hatte.Eine ungewöhnliche Herkunft für seinen Beruf, kurz gesagt: Proovt besaß wohl die dafür nötige Intelligenz, Autorität und Ausdauer,
     aber die Niederungen der städtischen Gesellschaft, Gemeinheit, Elend und Tod, waren ihm noch nicht vertraut. Es stand zu befürchten,
     dass er sich nie ganz daran gewöhnen würde.
    «Tragisch», murmelte er, und es klang, als habe er eigentlich «welch eine Zumutung» sagen wollen. «Niemand sollte so etwas
     seiner Familie antun.»
    Immerhin, dachte Hensler, der ein gläubiger Christ, doch auch ein wacher Kritiker verknöcherter kirchlicher Dogmen war, beginnt
     er nicht gleich von der Sündhaftigkeit zu lamentieren. «Wahrscheinlich nicht. Aber ich denke, sie hat nichts getan, was sie
     nicht hätte tun sollen.» Er trat an den Tisch und zog das Tuch zurück. «Seltsam, dass die Leute immer denken, die Tote habe
     sich ertränkt, wenn ein Mädchen aus dem Wasser gezogen wird. Hier», er zeigte auf den Hals und zog Proovt, der unwillkürlich
     einen halben Schritt zurückgetreten war, am Ärmel wieder näher. «Seht Euch den Hals genauer an. Es ist nur undeutlich zu sehen,
     das Wasser ist ja sehr kalt, es wirkt wie eine Kompresse. Vielleicht war auch nur ein leichter Ruck nötig.»
    «Ruck?» Nun doch neugierig, beugte Proovt sich über die Tote und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen den schlanken Hals.
     Der Packtisch stand zwar nahe einem der Fenster, und der Arzt hatte, bevor er mit seiner Untersuchung begann, die Männer angewiesen,
     die Bretter abzunehmen, dennoch erhellte das trübe Licht des Tages den Raum nur dürftig. Alle Abwehr war aus dem Gesicht des
     Polizeimeisters verschwunden und hatte gespannter Aufmerksamkeit Platz gemacht.
    «Erwürgt?», fragte er, ohne aufzusehen. «Nein», murmelte er dann, «nicht erwürgt. Tatsächlich», er richtete sich auf und sah
     den Arzt um Nachsicht bittend an, «tatsächlich habe ich bisher nur einen Erwürgten gesehen, und der war fett wie eine Mastgans.
     Die Spuren des Schicksals, das ihn im Hinterhof einer Abdeckerei ereilt hatte, waren nahezu gänzlich unter speckigen Falten
     verborgen. Trotzdem, diese Spuren am Hals sehen nicht aus, als sei sie erwürgt worden.»
    Der letzte Satz klang wie eine Frage, und Hensler nickte.
    «Überhaupt nicht. Ich denke auch nicht, dass sie von etwas herrühren, das ihren Tod herbeigeführt hat. Sie ist ohne Zweifel
     ertrunken. Doch sie sind seltsam. Seht her», behutsam griff er unter den Kopf der Toten und drehte ihn leicht. «Das sind Abschürfungen,
     schmal und am stärksten am hinteren Hals, schwächer an den Seiten, links stärker als rechts, und vorne an der Kehle ist gar
     nichts. Ich denke, das ist eindeutig. Das Mädchen muss eine Kette getragen haben, und die hat ihr jemand abgerissen.»
    Proovt riss sich mit seiner Rechten eine imaginäre Kette vom Hals und nickte mit vorgeschobenem Kinn. «Tatsächlich. Genauso
     sieht es aus. Irgendjemand hat ihr die Kette geraubt und sie dann in den Fluss gestoßen. Ein Raubmord.»
    Er vergaß völlig, dass es nicht seine Art war, Kriminalsachen mit Untergebenen zu besprechen, als welchen er den neuen Stadtphysikus
     betrachtete, auch wenn das nicht ganz richtig war.
    «Möglich», antwortete der und vergaß völlig, dass es nicht die Aufgabe eines Stadtphysikus war, dem Polizeimeisterüber die medizinischen Tatbestände hinaus Ratschläge zu erteilen. «Durchaus möglich. Es kann aber auch sein, dass die Kette
     schon vorher

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