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Die ungehorsame Tochter

Die ungehorsame Tochter

Titel: Die ungehorsame Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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bedauerten, aber niemanden wunderte. Rudolf hörte und sah selten
     mehr als seine Farbtöpfe, Bühnenmaschinen und Werkzeuge. Ausgenommen natürlich seine Frau Gesine und ihre Kinder Fritz und
     Manon, aber auch das war nicht sicher.
    Erst am Abend, als sie mit vom matten Licht der Unschlittkerze geröteten Augen auch die letzte Seite des
Dorfwahrsagers
übersetzt hatte, fiel Rosina ein, dass sie Filippo bisher niemals auch nur ein Wort in einer fremden Sprache hatte sprechen
     hören. Wieso konnte er ihr Französisch beurteilen? War das nicht nur möglich, wenn seines mindestens ebenso gut war?
    DONNERSTAG GEGEN MITTAG
    Doktor Hensler zog behutsam das Tuch über den toten Mädchenkörper, streifte seine aufgerollten Hemdsärmel herunter und griff
     nach seinem Rock. Er war ein kräftig gebauter Mann von etwa dreißig Jahren. Auch seine Hände waren kräftig, nur, wer sie sah,
     vermochte sich kaum vorzustellen, dass er nicht nur ein einfacher Stadtphysikus, sondern auch einer der besten Starstecher
     war, den ein Erblindender sich erhoffen konnte.
    Er wusste nicht, ob er erleichtert sein sollte. Gab es dafür überhaupt einen Grund, wenn ein junger Mensch, egal auf welche
     Weise, gestorben war? Er beugte sich noch einmal über die Tote, zog das Tuch weiter zurück und betrachtete das bleiche Gesicht.
     Nein, es gab keinen Grund. Dennoch, selbst wenn es für ihre Familie kein Trost war, so bedeutete es für sie wenigstens keine
     neue Schuld.
    Als der Junge ihn holte und zum Packhaus brachte, hatte der Arzt noch gefunden, das sei wahrlich kein guter Ort für diesen
     Anlass. Doch als er wenige Minuten darauf den Hafen erreichte, zollte er Hafenmeister Hennrichs Respekt. Der hatte sich für
     den kürzesten Weg entschieden, um das Mädchen den neugierigen Blicken zu entziehen. Die Tür des Packhauses knarrte, der Arzt
     zog das Tuch wieder über das Gesicht der Toten und drehte sich ärgerlich um. Hatte er die Männer des Hafenmeisters, die sie
     aus der Elbe geborgen hatten, nicht deutlich genug angewiesen, draußen zu warten und auch sonst niemanden hereinzulassen?
    In den letzten Minuten war das Gemurmel vor der Tür lauter geworden, das Häuflein Wartender wurde schnellgrößer. Schlechte Neuigkeiten breiteten sich flinker aus als Blattern und Halsbräune. Er war sicher, dass sich dort trotz
     der Kälte ein ganzer Schwarm von Neugierigen drängte, Spekulationen und Behauptungen austauschte und darauf wartete, dass
     er endlich die Tür öffne, darauf hoffte, wenigstens einen kleinen Blick auf die Attraktion des Tages werfen zu können. Der
     Arzt hatte diese Gier nach dem Unglück anderer nie verstanden. Doch vielleicht würde er sie ebenso verspüren, sähe er nicht
     Tag für Tag mehr Unglück, als ihm lieb war. Besonders seit er Segeberg verlassen und die Stelle des Altonaer Stadtphysikus
     übernommen hatte, die ihn auch zur Behandlung der Armen, der Stadtsoldaten und der Zuchthäusler verpflichtete.
    Nicht ein unverschämter Gaffer, sondern der Polizeimeister von Altona schob sich durch den Türspalt, den einer der Männer
     für ihn offen hielt und schnell, einen Vorwitzigen mit der Schulter abdrängend, hinter ihm schloss.
    Proovt, wie stets im dunkelblauen Rock aus feinstem Tuch (der zu seinem Verdruss dennoch den Uniformen der Offiziere des Militärs
     nur wenig glich) und blitzblanken schlankschaftigen Stiefeln, nickte grüßend und trat an den Packtisch, auf den die Männer
     das Mädchen gelegt und auf dem Hensler sie auch untersucht hatte.
    «Nun.» Proovt räusperte sich, sagte noch einmal: «Nun», und sah den Arzt fragend an.
    «Seht nur genau hin», sagte der, «sie kann euch nichts mehr tun. Sie hat nicht einmal eine Seuche weiterzureichen,
nichts,
was sie noch weitergeben könnte. Bis auf ein paar nützliche Informationen natürlich.»
    Proovt ignorierte den letzten Satz. Den davor offenbarauch, denn er zog ein feines weißes Tuch aus seiner Rocktasche, beiläufig, als habe er es sowieso gerade herausziehen wollen,
     und hielt es ebenso beiläufig vor Mund und Nase. Ein Hauch von Rosenwasser drängte sich in den Fischgeruch des Packhauses,
     als er an den Tisch trat.
    «Fatal», sagte er, «äußerst fatal. Immerhin haben die Männer sie gleich geborgen.»
    Hensler nickte. Er redete schon lange gegen diese unsinnige Angst der Menschen, Ertrinkenden zu helfen und Tote aus dem Wasser
     zu ziehen.
    «Hatte sie einen Grund, sich zu ertränken?» Die Gerüchte über das, was am Fluss geschehen

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