Die ungehorsame Tochter
direkt zu seinen Aufgaben,
doch es konnte nie schaden, die Einhaltung der Sonntagsruhe zu überprüfen.
«Monsieur?» Wagner hörte die Stimme, sah sich neugierig, wie es seiner Profession entsprach, nach dem so höflich Angesprochenen
um und merkte verdutzt, dass er selbst gemeint war. Vor ihm stand ein hochgewachsener, schlanker Mann, dessen Eleganz der
eines Claes Herrmanns kaum nachstand, auch wenn der es kaum passend gefunden hätte, in so modischen Stiefeln ins Gasthaus
zu gehen.
«Proovt», stellte der Fremde sich vor, «Polizeimeister in Altona. Es ist mir äußerst unangenehm, Euch am Sonntag stören zu
müssen, besonders während Eurer Mahlzeit, aber es ist dringlich. Wenn Ihr erlaubt.» Ohne Wagners Erlaubnis abzuwarten, setzte
er sich ihm gegenüber und legte seinen Dreispitz auf den Tisch. Wagners guteLaune schwand. Er hatte von dem Neuling in Altona gehört, er hatte ihn sogar schon einmal gesehen. Er spürte nicht die geringste
Lust, sich von diesem seltsamen Menschen, der ganz und gar nicht wie ein ordentlicher Polizeimeister, sondern wie ein junger
Schwärmer und Gelehrter mit zu reicher Verwandtschaft aussah, seine schönen Sonntagspläne durchkreuzen zu lassen.
«Euer Weddeknecht in der Fronerei sagte, ich würde Euch hier treffen», fuhr Proovt fort, als der Weddemeister ihn weiter schweigend
ansah. «Ich bin sehr froh, dass dem so ist. Stört es Euch, wenn ich eine Tasse Kaffee trinke?»
Wagner schüttelte den Kopf. «Das wird Euch allerdings kaum gelingen. Das hier ist kein Kaffeehaus, sondern eine Schenke. Jakobsen»,
rief er und drehte sich nach dem Wirt um, «bringt uns noch Wein. Und ein Glas.»
«Ich brauche Eure Hilfe, Meister Wagner.» Proovt nippte an seinem Glas und stellte es mit zusammengepressten Lippen auf den
Tisch zurück. «Ihr werdet gehört haben, dass in Altona eine Ertrunkene aus der Elbe geborgen wurde, vielleicht habt Ihr auch
gehört, dass das Mädchen nicht freiwillig ins Wasser gegangen ist, so jedenfalls scheint es. Die Sache ist noch recht undurchsichtig.»
Natürlich hatte Wagner davon gehört. «Ihr seid also nicht sicher, ob sie ermordet worden ist?»
«Eigentlich doch. Ziemlich sicher, es gibt deutliche Hinweise. Jedenfalls hat sie es nicht selbst getan, wenn Ihr das meint.
Sie hatte auch keinen Grund.»
«Da habe ich anderes gehört.» Wagner drehte sich nach der Küche um, aber es sah nicht aus, als würde Ruth ihm auch noch einen
ihrer süßen Puddings spendieren,für die Wagner alle Ragouts der Welt stehenlassen würde. «Nun ja, die Leute reden immer schnell Übles.»
«Ja.» Proovt nickte düster. «Die Leute.»
«Vielleicht hat sie ein Glas Wein getrunken und ist zu nah ans Wasser getreten. Immer wieder fallen Leute in die Seen und
Flüsse und ertrinken. Besonders wo Vorsetzen sind. Wenn zudem die Wege auch noch vereist …»
«Ihr könnt versichert sein, Monsieur, dass ich das alles geprüft habe.» Proovts Stimme klang knapp. Dr. Hensler hatte ihm erzählt, der Hamburger Weddemeister wirke ein wenig unbedarft, tatsächlich sei er ein schlauer Fuchs und
erfahrener Jäger. Nun glich dieser Mann eher einem Hamster, er verspeiste schon zum Frühstück ein fettiges Fleischragout und
stellte nur Überlegungen an, die sich um kein Deut von seinen eigenen unterschieden. Proovts Selbstbewusstsein kehrte zurück,
und er fuhr versöhnlich fort: «Mademoiselle Hörne ist als Kind beinahe ertrunken. Sie ging niemals nahe ans Wasser.»
Tapfer nahm er noch einen Schluck von dem sauren Getränk, das hier als Wein ausgeschenkt wurde, und berichtete von der verschwundenen
Kette, die sie kurz vor ihrem Tod noch getragen hatte, von den Verletzungen an ihrem Hals und schließlich von dem Grund seines
Kommens: «Sie war am Abend ihres Todes mit Freunden im Theater, sehr anständigen Leuten, die über jeden Verdacht erhaben sind.
Ich meine damit, dass diese alte Freundin aus ihrer Kindheit und deren Gatte absolut keinen Grund hatten, ihr etwas anzutun.
Außerdem, das ist noch wichtiger, wurde Mademoiselle Hörne später, nachdem ihre Freunde sie nach Hause begleitet und sich
verabschiedet hatten, noch am Hafen gesehen, und zwar in Begleitung eines Mannes.»
Proovt berichtete, so knapp es ihm möglich war, was Hilda Rogge beobachtet und was sie in der Stadt gehört hatte. Dabei sagte
er mindestens viermal «sagen die Leute», was ihm sehr peinlich, aber nicht zu umgehen war.
«Matthias Paulung», schloss er,
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