Die ungehorsame Tochter
der Brust gefalteten Händen, seien
noch in St. Michaelis. Das wäre die beste Gelegenheit für ein vertrauliches Gespräch gewesen. Leider war das unmöglich. Der Mann auf dem
Strohsack in der Ecke gleich neben der Tür schlief wie ein Toter. Er sah auch so aus. Es stank penetrant nach alten Kleidern
und feuchtem Stroh, vor allem aber nach billigem Fusel. Bis Matthias Paulung wieder ein auch nur halbwegs vernünftiges Wort
von sich geben konnte, würden Stunden vergehen.
Momme Fels stellte ohne Zögern seine Schubkarre für den Transport zur Verfügung, doch Wagner hatte nicht die geringste Lust,
zu einer Stunde, da die halbe Stadt in der ersten Frühlingssonne auf dem Jungfernstieg promenierte, Volksbelustigung zu sein.
Als die Glocke auf dem Großneumarkt Mittag schlug, hielt der Wagen der Wedde, eine alte, nicht sehr geräumige Kiste auf Rädern,
vor dem Haus des Farbenmachers. Kopf an Kopf drängten sich die Leute aus den umliegenden Gassen und Gängen und beobachteten
schweigend, wie die Weddeknechte den leblosen Untermieter ihres Nachbarn hineinbugsierten.Kaum setzten sich die beiden Klepper mit dem schwankenden Gefährt in Bewegung, erhoben sich die Stimmen und fegten wie eine
Windbö um alle Ecken. Proovt, der lieber zu Fuß zur Fronerei ging, als sich zu Wagner und dem stinkenden Paulung in diese
Flohkiste zu quetschen, hörte Worte von Mord, Pest und giftigen Kräutern. Die Leute, dachte er. Das sind sie, «die Leute».
SONNTAG, DEN 12. MARTIUS,
VORMITTAGS
«Bitte, Anne, nenne mich doch weiter Rosina. Ich bin so an diesen Namen gewöhnt, dass der andere beinahe einer Fremden zu
gehören scheint.»
«Nur zu gerne. Emma klingt tatsächlich schrecklich fremd und viel mehr nach einer gesetzten Matrone als nach dir. Du meine
Güte, Rosina, ich habe nie angenommen, dass du in einer Bauernkate geboren wurdest. Niemand hat das. Es macht nicht die geringste
Mühe, mir vorzustellen, dass du die Tochter eines Mannes bist, der Ländereien im Sächsischen besitzt und zwei Silberminen
im Harz. Oder waren es drei? Aber ich habe mir nie vorgestellt, du könntest einmal dorthin zurückkehren. Ich habe einfach
nicht daran gedacht. Wie dumm von mir.»
Sie hatte, ganz im Gegensatz zu den Damen in den Salons und den Herren in den Kaffeehäusern und Kontoren, auch nie darüber
nachgedacht, ob ihre Verbundenheit mit einer fahrenden Komödiantin nicht gar zu sehr gegen die guten Sitten verstieß. Weil
die Becker’schen sie aus dem Feuer gerettet hatten, erklärten sich die Leute in der Stadt diese unpassende Vertraulichkeit,
damals, als sie zum ersten Mal in der Stadt und noch nicht MadameHerrmanns, sondern Mademoiselle St. Roberts gewesen war. Anne hätte dem nicht zugestimmt. Sie dachte nie über die Ursache dieser Vertrautheit nach, dafür gab
es keinen Anlass, aber hätte sie es getan, so wäre ihr vielleicht diese Vermutung einer ähnlichen Erziehung, gewiss aber das
gemeinsame Gefühl der Fremdheit, des Andersseins eingefallen, das sie wie auch Rosina in ihrer selbstgewählten neuen Welt
nie ganz verloren.
«Das ist überhaupt nicht dumm, Anne. Eine Frau, die beschließt, auf der Straße zu leben, kann in so eine Familie nicht zurückkehren.
Sie würden das niemals zulassen. Normalerweise.» Sie stand auf, trat an das Fenster und sah auf die Straße hinunter. Der Neue
Wandrahm lag in feiertäglicher Stille, nur eine Meise zwitscherte in einem der noch winterkahlen Bäume. «Ich glaube nicht,
dass ich zurückkehre. Ich kann es nicht. Als ich damals ging, wusste ich, dass es für immer war. Das sollte es auch sein.»
Sie drehte sich um, und Anne sah in ein ratloses Gesicht. «Wie soll ich ihm gegenübertreten? Ich habe ihn damals so sehr gehasst.»
«Und jetzt? Hasst du ihn immer noch?»
«Nein. Ich weiß es nicht. Es sind so viele Jahre vergangen. Es wäre gelogen zu behaupten, ich hätte nie an meinen Vater gedacht,
an ihn und an das Haus, den Park, an mein ganzes früheres Leben. Es war ja schön. Bis mein Bruder starb. Bis ich begriff,
wie meine Mutter gelitten hatte. Und warum: Er schämte sich ihrer Vergangenheit und tat alles, um die auszulöschen. Ich konnte
das nicht verstehen. Wer die Ehre gehabt hatte, an die kurfürstlichkönigliche Oper eingeladen zu werden, schwärmte von Sängerinnen
wie der großen Faustina Hasse, warum also durfte meine Mutter nicht Sängerin sein und bleibenund dafür bewundert werden? Heute begreife ich zumindest
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