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Die ungehorsame Tochter

Die ungehorsame Tochter

Titel: Die ungehorsame Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Handlanger. Aber einer Lotsentochter schöntun. Zum Teufel hat sie dich geschickt, du bist wütend geworden, das kannst
     du ja so gut, und schwups lag sie im Wasser und ersoff. Hast du zugeguckt, Paulung? Hat es dir Spaß   …»
    Weiter konnte Wagner nicht reden. Paulung hatte ihn mit einem Wutschrei zu Boden gerissen und kniete über ihm, ein Koloss,
     dessen Hände Wagners Hals pressten wie Schraubstöcke.
     
    Am Millerntor wandte sie sich nach links, ging am Wachhaus vorbei und erklomm den Wall. An schönen Sommersonntagen wurde der
     breite Fahrweg auf den Wällen im Schatten der mächtigen Kronen hundertjähriger Ulmen zur belebten Promenade. Ein kalter Märztag
     jedoch lockteniemanden herauf. Die beste Gelegenheit für eine kleine Gruppe rotnasiger Jungen, sich unbeachtet beim Kegelspiel zu amüsieren,
     das der Rat wegen der Beeinträchtigung der Spaziergänger und Wagen auf den Wällen strikt verboten hatte.
    Rosina spürte die Kälte nicht. Sie ging bis zu der wie eine breite Lanzenspitze hervorragenden Bastion Albertus hinauf. Außer
     den Soldaten vor ihrem Wachhaus war hier niemand zu sehen. Die Männer beachteten sie nicht, und so stand sie allein, fest
     in ihr wollenes Tuch gewickelt, an der Brüstung des Walls. Sie liebte diesen Teil der Festung, weil er den Blick in alle Himmelsrichtungen
     freigab. Der Fluss lag tief unter ihr, linker Hand, wo er am südlichen Rand der Stadt den Hafen bildete, lag an den Vorsetzen
     und Duckdalben nun schon Schiff an Schiff. Zwischen den Inseln schimmerten braunrot und weiß die kleinen Segel einiger Ewer
     auf dem Weg zu den Inselhöfen oder ans hannöversche Ufer. Sie beschirmte mit beiden Händen ihre Augen gegen die matte Sonne
     und entdeckte nahe den Gehöften schmutzig weiße Flecken, Schafe mit ihren Lämmern auf der Suche nach dem ersten frischen Gras.
    Wenn sie sich doch entschlösse, mit Klemens zu reisen, würden sie den Fluss überqueren müssen. Eine halbe Tagesreise weiter
     östlich bei Artlenburg gab es eine Furt, die mit schwerbepackten Wagen nur im Hochsommer zu passieren war, wenn das Wasser
     ganz niedrig stand. Die Becker’schen Komödianten setzten gewöhnlich mit der Fähre bei dem nähergelegenen Zollenspieker über.
     Dieses Mal würde sie nicht mit den Wagen reisen. Zum ersten Mal konnte sie unbeschwert von Kisten, Kasten und Radbrüchen unterwegs
     sein. Wie? Mit der Postkutsche? Klemenswürde sein Pferd, ein edles Tier mit arabischem Blut, kaum hier zurücklassen wollen. Er konnte die Kutsche begleiten. Aber
     nein, das wollte sie nicht. Wenn sie diesen Rückweg antreten musste, wollte sie es so frei als möglich tun. In Männerkleidern
     und im Sattel. Sie würde Jean bitten müssen, ihr die Miete für eines der besseren Pferde aus dem Stall in der Finkentwiete
     auszulegen.
    Ihre Augen wanderten weiter nach Südosten. Irgendwo hinter dem dunstigen Horizont, viele Tagesritte entfernt, stand das Haus,
     aus dem sie in einer Septembernacht geflohen war und in das sie nun zurückkehren sollte.
    Sie hatte in den letzten Jahren nicht oft zurückgedacht. Doch wenn irgendeine Kleinigkeit, etwas Alltägliches wie der Geruch
     der ersten Narzissen, das Rauschen und Klappern einer Wassermühle in der Nacht, ein dickes lateinisches Buch oder eine bestimmte
     Tonfolge auf einem Klavichord, die Tür zu ihrer Erinnerung öffnete, sah sie nicht zuerst das Haus und die Menschen, sondern
     den jüngsten der Hunde, den mit der Blesse auf der Brust. Sie sah ihn am Ende des Gartens sitzen, mit schiefgelegtem Kopf
     und munteren Augen. Damals hatte sie gefürchtet, die Hunde würden sie verraten, aber sie hatten sie still bis zur Pforte in
     der Mauer begleitet und ihr nachgesehen.
    Während jener ersten, so schrecklichen Tage wärmte sie die Erinnerung an diesen freundlichen Abschied. Wie dumm sie damals
     war, nichts wusste sie von der Welt jenseits der Mauer um den Park. Auf den Straßen nannte sie niemand Mademoiselle, niemand
     öffnete ihr eine Tür, niemand führte sie an den gedeckten Tisch oder ging für sie zum Brunnen und füllte ihre Waschschüssel.
     Das hattesie nicht erwartet, so dumm war sie nun doch nicht gewesen, doch was es tatsächlich bedeutet, ein Niemand zu sein, hatte sie
     bis zu diesen Tagen nicht einmal geahnt.
    Sie hatte damals oft davon geträumt, das Haus, das ihr immer mehr wie ein Gefängnis erschien, zu verlassen. Aber wohin? Sie
     wusste niemanden, der sie nicht sofort zurückschicken würde. Erst als die Mägde von

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