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Die ungehorsame Tochter

Die ungehorsame Tochter

Titel: Die ungehorsame Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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auf der Straße
     eingesammelt habe, gingst du genau in die entgegengesetzte Richtung. Sei froh oder danke deinem Schutzengel. Weißt du denn
     nicht, dass du dort den Preußen zu nahe kommst? Es ist Krieg, jeder, der auch nur die Hälfte seiner Sinne beisammenhat, zieht
     in die entgegengesetzte Richtung. Was wolltest du überhaupt in Leipzig? Hast du dort Verwandte? Nun sag schon, zu wem willst
     du dort?»
    «Zu den Komödianten», sagte sie trotzig und verstand nicht, warum alle noch lauter lachten als zuvor, sogar das Paar auf der
     Ofenbank, das bisher nur zugehört und kein Wort gesprochen hatte. Die Frau, an der alles schmal undfarblos zu sein schien, erhob sich. «Nun lasst sie in Ruhe», sagte sie. «Sie schielt schon vor Müdigkeit. Manon kann ihr Bett
     mit ihr teilen, morgen werden wir weitersehen.»
    Was die Frau, Gesine, als Bett bezeichnet hatte, erwies sich als ein klumpiger Strohsack in einer winzigen Kammer, nicht mehr
     als ein Verschlag neben der Gaststube. Es war dort trocken und warm und gegen ihre letzten Nachtlager behaglich wie in einem
     Himmelbett voller seidener Kissen. Auch gab es keine knarrende Treppe, keine quietschende Tür – es würde leicht sein hinauszukommen.
    Manon, das Mädchen, teilte bereitwillig ihre Decke mit der seltsamen Fremden. Einmal erwachte Rosina, sie wusste nicht, wo
     sie war, und setzte sich erschreckt auf.
    «Schlaf weiter, Kind», kam die leise Stimme der Alten aus dem Dunkel. «Es ist noch lange nicht Tag.»
    Manon seufzte im Schlaf und schmiegte sich warm an sie. Zum ersten Mal, seit sie durch die Pforte in der Mauer geschlichen
     war, fühlte sie keine Angst.
    Das war nun fast neun Jahre her. Oder schon zehn? Nun stand sie auf einer Festungsmauer und dachte an das frierende, hungrige
     Kind, das sie damals gewesen war. Ein Kind auf der Flucht vor einer Zukunft, die es nicht wollte. Inzwischen wusste sie, wie
     gering ihre Aussicht auf ein gutes Ende und wie groß ihr Glück gewesen war, als Jean sie aus der Hecke gezogen hatte.
    Die Sonne stand schon tief, es war höchste Zeit, nach Altona zurückzugehen. Zurück, dachte sie. Neun Jahre zurück. Sie würde
     dort ganz gewiss nicht mit solchen Freudenschreien empfangen werden wie Sophie im Haus der Herrmanns’ am Neuen Wandrahm.
     
    «Finger weg, Wagner, es hilft wirklich. Zwar ist mir noch niemand an die Gurgel gegangen, doch eine gequetschte Hand ist ebenso
     Fleisch und Knochen wie Euer Hals.» Proovt legte das tropfnasse Handtuch um Wagners Hals und hielt es behutsam mit der flachen
     Hand fest. «Eis wäre natürlich besser. Kann Grabbe schnell welches besorgen? Der
Kaiserhof
ist nicht weit, dort haben sie bestimmt welches im Keller.»
    «Untersteht Euch.» Wagners Stimme erlaubte nur ein Krächzen, und Proovt grinste. «Was habt Ihr Euch eigentlich gedacht? Dass
     er sich das ruhig anhört und brav nickt? Ihr habt Glück gehabt, dass er Euch gleich losgelassen hat, als Grabbe und ich ihm
     auf den Rücken sprangen. Tatsächlich war ich ziemlich froh, als Euer Weddeknecht vor der Tür stand und Paulung sich nicht
     gleich blindwütig auf den Nächsten stürzte. Auf mich zum Beispiel. Ich kann ganz gut mit dem Degen umgehen, gegen solche Fäuste
     möchte ich aber wirklich nicht antreten. Nicht solange es sich irgendwie vermeiden lässt. Seid still. Ihr solltet Eurem Hals
     noch ein bisschen Ruhe gönnen. Meint Ihr nicht?»
    «Mumpitz», krächzte Wagner. Er schob Proovts Hand von seinem Hals, legte die eigene an deren Stelle und stand auf. «Jedenfalls
     wissen wir jetzt, dass er es wahrscheinlich nicht war.»
    Er wollte weiterreden, aber er machte den Mund wieder zu und strich vorsichtig über das nasse Tuch auf seiner Kehle.
    «Wie kommt Ihr zu diesem Schluss? Ich war sicher, Ihr dächtet genau das Gegenteil. Von einem, der sich so leicht in Rage bringen
     lässt?»
    Wagner schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war nichtsals Ärger über diesen neuen Polizeimeister, der ganz offensichtlich nichts von Menschen verstand. Wahrscheinlich, dachte er,
     weil er nie mit Menschen zu tun gehabt hatte, bevor er sein Amt antrat, sondern nur mit Monsieurs und Madames. Und mit Mademoiselles.
     Besonders mit Mademoiselles. Wagners Einschätzung war nicht ganz richtig, aber auch nicht ganz falsch. Er räusperte sich und
     flüsterte: «Dann hätte er mehr gewinselt und nicht gleich losgeprügelt. Ich erkläre Euch das später.» Wieder räusperte er
     sich. «Später. Jetzt könnt Ihr ihn mitnehmen.»
    Er dachte

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