Die ungehorsame Tochter
diesmal nicht einzumischen. Ich war zufällig
mit Matti bei Madame Benning, der Tante des toten Mädchens, als der Polizeimeister kam, um sie zu befragen. Und weil Madame
Benning keine sehr ruhige Hand hat, bat sie mich um die Zeichnung.»
«Was ist das?» Anne griff neugierig nach dem Bogen und betrachtete die Skizze. «Es sieht ungewöhnlich aus.»
«Es zeigt den Anhänger der Kette. Er war ursprünglich der Verschluss für drei Reihen von Granatperlen, deshalb ist er so rechteckig,
später wurde er zu einem Anhänger umgearbeitet. Das Schmuckstück ist aus Silber, und Monsieur Proovt glaubt, dass der Mann
versuchen wird, es zu verkaufen. Ich dachte, falls Ihr es irgendwo seht oder von einem Goldschmied angeboten bekommt …»
Das glaubte Rosina zwar keine Minute, aber etwas Besseres war ihr nicht eingefallen, um Annes Satz schnell zu beenden.
«Natürlich», Claes nickte, «dann werden wir es umgehend der Wedde melden. Möglicherweise ist das schon überflüssig. Im Hafen
habe ich gehört, unser flinker Wagner habe heute den jungen Paulung arretiert. Er ist als Letzter mit der Toten gesehen worden,
jemand hat beobachtet, wie das Mädchen mit ihm in der Nacht die Große Elbstraße hinunterging. Man muss das natürlich nicht
glauben, aber dass er in der Fronerei ist, stimmt wohl.»
«Wieso Wagner?», fragte Anne, die immer noch Rosinas Zeichnung in der Hand hielt. «Der Mord ist doch in Altona geschehen.»
«Paulung ist Hamburger. Der Polizeimeister von Altona muss sich an Wagner wenden, wenn er hier jemanden verhören oder gar
arretieren will. Das wäre ja noch schöner,wenn jeder unserer Nachbarn nach Belieben unsere Bürger belangen könnte.» Plötzlich hielt er inne und lauschte. «Was ist denn
in der Diele los?»
Ein schriller Schrei war die Antwort, von wem, ob vor Freude oder Entsetzen, war nicht zu deuten. Alle drei sprangen erschreckt
auf, doch bevor sie die Tür erreichten, wurde sie schon geöffnet. Ein zweiter Schrei folgte. Diesmal aus Annes Mund, und schon
lag sie in den Armen eines großen Mannes mit tief gebräuntem Gesicht. Wie immer kräuselten sich aus dessen Rock, heute aus
tief burgunderfarbener Seide, schwere Spitzen, wie immer war sein dichtes, fast schwarzes Haar nur nachlässig im Nacken gebunden,
und in seinen dunklen Augen blitzte das reine Vergnügen.
«Jules», rief Anne, löste sich aus seiner Umarmung und trat rasch, sich an die Sitten einer hanseatischen Ehefrau erinnernd,
einen Schritt zurück. «Wo kommst du her, Jules? Was machst du hier?»
«Captain Braniff, seid uns willkommen.» Claes freute sich nicht annähernd so wie Anne, aber er betrachtete den Freund ihrer
Jugend längst nicht mehr als Rivalen, sondern als höchst unterhaltsamen Gast.
«Ich komme von meinem Schiff, Anne, woher sonst? Wir sind vor einer Stunde eingelaufen. Für Euch, Monsieur Herrmanns, habe
ich ein Geschenk, das ich keinem Fuhrmann anvertrauen wollte. Madame», rief er und blickte durch die immer noch geöffnete
Tür zur Diele hinunter. «Wo seid Ihr?»
«Hier», rief eine so energische wie fröhliche weibliche Stimme von der Treppe. «Ich musste erst Elsbeth und Blohm küssen.»
Sophie, Claes Herrmanns’ Tochter und Gattin desHerrn seiner Lissabonner Dependance, trat in den Salon. Die schwere graue Seide ihres hochgeschlossenen Kleides war von der
gleichen Farbe wie ihre Augen, die der sanft gebräunte Teint und die von Freude geröteten Wangen noch strahlender erscheinen
ließen. Das Bild erstarrte für einen Moment wie in einer Scharade, dann lag Sophie in den Armen ihres Vaters, ließ sich an
Anne weiterreichen, tupfte eigene und die Tränen ihrer Stiefmutter ab, lachte und weinte, und alles sah genauso aus, wie es
aussehen muss, wenn sich einander liebende Menschen unverhofft und nach Jahren der Trennung wieder begegnen.
Rosina sah dem zu, sah die Liebe und die Freude und fühlte ein Frösteln. Leise stahl sie sich aus dem Zimmer, die Treppe hinunter
und über die Diele auf die Straße.
Claes sah sie gehen, doch als er ihr nacheilen wollte, hielt Anne ihn zurück. «Du kennst Rosina», flüsterte sie, «sie möchte
nicht stören.» Laut sagte sie: «Wo ist Martin? Hat er noch auf dem Schiff zu tun? Kommt er mit eurem Gepäck?»
«Martin?» Sophie sah plötzlich sehr viel älter und stolzer aus, als es ihren zweiundzwanzig Jahren entsprach. «Martin ist
in Lissabon. Und dort wird er hoffentlich auch bleiben.»
Anne sank auf einen
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