Die ungehorsame Tochter
Stuhl. Der Ausdruck von Sophies Gesicht, der plötzlich schmale Mund und die strengen Linien um ihre etwas
zu kleine Nase sagten mehr als ihre Worte, und, schlimmer noch, was sie in Jules Braniffs Augen las, bestätigte ihre schwärzesten
Träume.
KAPITEL 7
SONNTAG, DEN 12. MARTIUS,
NACHMITTAGS
Matthias Paulung sah aus wie ein Gespenst, allerdings roch er sehr viel schlechter. Wenn ein Gespenst vorbeischwebt, zum Beispiel
der klagende Geist jener vor langer Zeit im Harburger Schloss eingemauerten Prinzessin, roch es höchstens nach jahrhundertealtem
Moder, ein bisschen Staub und viel Angst. Der Mann in der Fronerei roch sehr irdisch nach einer üblen Mischung von Misthaufen,
überfüllter Kaschemme und Wassermangel.
«Vielleicht sollten wir ihm die Möglichkeit geben, sich zu waschen», sagte Polizeimeister Proovt.
«Waschen?» Wagner glaubte nicht recht gehört zu haben. «Womöglich noch ein Barbier? Ich weiß nicht, wie Ihr es in Altona haltet,
hier geht es einzig um Wahrheit. Dabei spielt Reinlichkeit keine Rolle.»
Tatsächlich war er mit Paulungs Zustand außerordentlich zufrieden. Je unwohler ein Delinquent sich fühlte, umso geringer sein
Widerstand. Dieser junge Mensch aus Altona hatte noch viel zu lernen. Der aber war nicht so einfältig, wie es schien, er hatte
bei seinem Vorschlag einzig an sein eigenes Wohlergehen gedacht. Der Lavendelduft seines Hemdes war seiner empfindlichen Nase
keine Rettung mehr. Ganz im Gegenteil schien das feine Leinen schon das gleiche Aroma zu verströmen wie der Mann auf dem Stroh.
«Holla.» Wagner beugte sich vor und starrte Paulung ins Gesicht. «Er rührt sich. Es scheint, der Herr hat endlich ausgeschlafen.
Paulung», rief er, «aufwachen! Paulung!!»
Der grunzte nur, und Wagner schickte Grabbe um einen Eimer Wasser. Proovt hoffte still, der Weddeknecht werde das Wasser vom
Brunnen holen und nicht aus dem Fleet. Eine tote Ratte oder ähnlich unerfreulicher Unrat war in diesem düsteren Kerkerloch
nicht mehr nötig.
Das Wasser half. Schließlich hockte Matthias Paulung, immer noch verwirrt, aber halbwegs wach, in dem kleinen Raum der Fronerei,
in dem Wagner seine Befragungen durchführte. Sie hatten ihn auf einen Hocker gedrückt, und obwohl sein Körper immer wieder
schwankte, bemühte er sich, aufrecht zu sitzen. Er begriff, wo er war, und die Demütigung, die sein Zustand und der Aufenthalt
an diesem Ort für ihn bedeuteten, quälten ihn mehr als Schwindel, Übelkeit und das Hämmern in seinem Kopf. Er wusste nicht,
wie lange er getrunken hatte, zwei Tage, drei? Er wusste auch nicht, wo er getrunken hatte oder mit wem. Er wusste nur, dass
Anna tot war.
«Sehr schön, Paulung», sagte Wagner, nachdem der auf alle Fragen mürrisch und wortkarg geantwortet hatte, verschränkte die
Hände auf dem Rücken und begann in der engen Kammer auf und ab zu gehen. «Das ist in der Tat eine sehr schöne Geschichte.
Deshalb erzählst du sie uns gleich nochmal.»
«Warum?»
«Weil ich es so will», sagte Wagner, und Proovt sagte: «Womöglich habt Ihr beim ersten Mal etwas vergessen», wofür er von
Wagner einen grimmigen Blick erntete, was ihn aber nicht störte. Er hatte beschlossen, diesen dickenkleinen Gernegroß nicht zu mögen, und von jemandem, den er nicht mochte, ließ er sich auch nicht einschüchtern. Egal, wie
viel Erfahrung der voraushatte.
«Weil ich es so will», wiederholte Wagner und sah dabei Proovt an, als wolle er ihn an die Wand nageln. «Ich frage, du antwortest.
Mal sehen, wie deine Geschichte diesmal aussieht. Du warst also mit Mademoiselle Hörne in der Komödie. Aha. So. Natürlich
hattest du dazu die Erlaubnis ihres Vaters.»
«Nein. Sie lebte doch schon den ganzen Winter über bei ihrer Tante, Thea Benning, die hat es ihr erlaubt. Jedenfalls hat sie
das gesagt. Warum sollte ich das nicht glauben?»
«Weil es seltsam ist. Wer lässt ein anständiges Mädchen in die Komödie gehen, wer lässt sie gar ohne Begleitung ihrer Eltern
gehen? Und wer allein mit einem Mann, mit dem sie nicht mal verlobt ist?»
Paulung schwieg.
«Genau. Selbst dir fällt keiner ein. Mademoiselle Hörnes Ehrbarkeit kann dir nicht sehr am Herzen liegen.»
Wenn das überhaupt möglich war, wurde Paulungs Gesicht noch bleicher. Er versuchte aufzuspringen, doch er schwankte, seine
Beine gaben nach, und er fiel. Mühsam rappelte er sich auf und kroch wieder auf seinen Hocker.
«Bleiben wir bei dem Theater», sagte
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