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Die ungehorsame Tochter

Die ungehorsame Tochter

Titel: Die ungehorsame Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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nicht daran, diesem unverständigen Menschen zu erklären, wie er zu seinen Schlüssen kam.
    «Ihr denkt, ich lasse ihn laufen? Nur weil er Euch fast umgebracht hat?»
    «Unsinn. Ich bin Weddemeister, nicht Christus.
Wahrscheinlich
nicht getan, habe ich gesagt. Ihr könnt ihn in Altona einsperren, bis Ihr rausbekommen habt, was wirklich passiert ist.»
    «Das geht nicht. Habe ich Euch das noch nicht gesagt?» Proovt bemühte sich um ein zerknirschtes Gesicht. «Ihr müsst ihn hier
     behalten. In unserem Zuchthaus sind die Blattern. Das ist nicht so ungewöhnlich, aber unser neuer Physikus hat neue Methoden
     mitgebracht. Er hat das Zuchthaus unter Quarantäne gestellt und gedroht, jeden, den ich dort arretieren will, sofort wieder
     hinauszuwerfen. Und bedenkt, Wagner: Paulung ist Hamburger. Ihr werdet nicht wollen, dass wir ihn nach Pinneberg bringen.
     Dorthin müsste er nämlich, bis Dr.   Hensler unser Zuchthaus wieder freigibt. Es ist kurios, nicht wahr, ein Zuchthaus in Gefangenschaft. Sozusagen.»
    Wagner konnte nicht in Proovts Lachen einstimmen.Er lachte niemals über amtliche Belange. Dennoch täuschte seine grimmige Miene. Er fand es durchaus angemessen, wenn ein Hamburger,
     den er zudem nicht unbedingt für schuldig hielt, auch in einem Hamburger Gefängnis auf die Klärung des Falles wartete. Wer
     wusste schon, was diese dänischen Holsteiner aus der Sache machen würden?
    MONTAG, DEN 13.   MARTIUS,
MORGENS
    Immer, wenn er die Hand in die Tasche seiner Joppe schob, begannen seine Finger zu suchen. Sie glitten über den Wollstoff,
     als gehörten sie nicht zu ihm, sondern seien eigenwillige kleine Tiere, Hunde auf der Jagd nach einer Beute. Nein, das stimmte
     nicht. Es war nicht die Suche nach einer Beute, sondern nach etwas Verlorenem. So wie er in den Bildern, die ihn in den schlaflosen
     Stunden seiner Nächte quälten, nach seiner Erinnerung suchte, tasteten seine Finger immer wieder und vergeblich nach dem silbernen
     Schmuck, den er am Morgen nach Annas Tod in seiner Jacke gefunden hatte.
    An jedem Morgen dieser letzten Tage war er mit der Hoffnung erwacht, sich wieder erinnern zu können. Auch mit der Angst davor,
     aber die Hoffnung war größer. Nichts schien ihm unerträglicher als diese Ungewissheit. Er musste wissen, wie der silberne
     Anhänger mitsamt der Kette in seine Tasche gekommen war. Die Kette war zerrissen – konnte das bedeuten, dass er den Schmuck
     auf der Straße gefunden hatte? Oder im Hof der Schenke, als er zum Abtritt ging? Hoffentlich nur zum Abtritt. Wäre er der,
     von dem gesagt wurde, er habe Anna ins Wasser gestoßenund ihr dabei die Kette entrissen, könnte er beides in seiner Joppe gehabt haben, die Kette und den Anhänger. Aber warum wurde
     nicht vermutet, jemand habe versucht, Anna vor ihrem Sturz zu bewahren? Jemand habe sie halten wollen und nur noch die Kette
     erreicht? Natürlich, wenn es so gewesen wäre, wenn er es gewesen wäre, hätte er sofort um Hilfe gerufen, wäre selbst ins Wasser
     gesprungen und hätte sie gerettet. Es sei denn, ja, es sei denn, er war zu betrunken gewesen, um zu begreifen, was geschehen
     war.
    Berno Steuer stöhnte. Er hätte gerne geschrien, aber er wusste nicht, wie das geht. Ein Mann durfte brüllen, im Zorn oder,
     wenn er ganz unerträglich wurde, im körperlichen Schmerz. So wie der Schmied, als ihm ein scheuender Grauschimmel den Kiefer
     zerschlug. Der Schmerz der Seele, das Entsetzen vor den eigenen Gedanken und den Bildern in seinem Kopf, fand nur stumme Schreie.
    Matthias Paulung saß nun in Hamburg in der Fronerei. Das war heute wie ein Lauffeuer durch die Stadt gerast. Schon bis zum
     Mittag war es ihm viermal erzählt worden. Als er es zum ersten Mal hörte, war ihm, als fiele alle Last, die ihn niedergedrückt
     hatte, von seinen Schultern. Die Erleichterung hatte nicht lange angehalten. Denn auf die Botschaft folgte gleich der Zweifel.
     Manche meinten, der Paulung sei es bestimmt gewesen, der sei so einer. Andere waren dessen nicht so gewiss. Wenn der Paulung
     den alten Hörne ersäuft hätte, das ja, aber Anna? Und: In die Fronerei komme man schnell, in Hamburg noch schneller als in
     Altona. Das bedeute noch lange nicht, dass einer auch schuldig sei. Bis zum Gerichtstag würden noch Wochen vergehen, was bis
     dahin geschehe – wer wisse das schon?
    In einem aber waren alle einig: Wenn sie den Paulung wieder freiließen, solle er sich vor Zacharias Hörne in Acht nehmen.
    Berno beugte sich über seine

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