Die ungehorsame Tochter
um ihnen fremd zu bleiben. So wie es Filippo jetzt tat. Es stimmte ja nicht, dass nur wichtig war, was ein Mensch tat
und sagte, und unwichtig, woher er kam. Es mochte letztlich egal sein, ob einerStudent, Fischer oder Mönch gewesen oder auf dem Komödiantenkarren geboren war, dennoch machte es einen Unterschied, ob man
darum wusste. Ein Mensch wurde erst wirklich vertraut, wenn man seine Vergangenheit kannte.
Je länger sie zur Becker’schen Gesellschaft gehörte, je mehr Leben sie mit ihr teilte, umso blasser wurde das Gefühl der Verlorenheit,
auch wenn es nie ganz und für immer schwand. Doch nun fürchtete sie, dass sie sich dort, woher sie vor vielen Jahren gekommen
war, wieder wie auf einem fremden, feindlichen Kontinent fühlen würde.
«Verdammt, Rosina, es gibt unendlich viel zu tun, und du stehst herum und träumst. Warum ist der Tisch noch nicht gedeckt?»
Helena war ins Zimmer getreten. Sie ließ einen schweren Korb mit Wäsche auf die Bank fallen, hob einen Stapel Teller aus dem
Wandbord und begann sie klappernd auf dem Tisch zu verteilen.
«Warum regst du dich auf? Es ist noch genug Zeit. Außerdem träume ich nicht, sondern überlege, wie ich Manon noch bei den
Proben helfen kann.»
«Was gibt es da für dich zu überlegen? Das ist Jeans Sache, und er macht sie gut.» Helena griff nach den Krügen für Wein und
Wasser, hob sie prüfend und stellte sie ärgerlich zurück auf den Tisch. «Vielleicht könntest du wenigstens die Güte haben,
Wein zu holen? Oh, ich vergaß, Melzers Kaffeehaus ist natürlich nicht mehr der richtige Aufenthalt für dich. Sicher ist dir
auch unser Wein nicht gut genug …»
«Helena! Warum redest du plötzlich solchen Unsinn?» Nun nicht weniger zornig, griff Rosina nach den Krügenund rannte aus dem Zimmer. Nur um auf der halben Treppe umzukehren und zurückzulaufen. Helena stand immer noch am Tisch, die
beiden letzten Teller noch in der Hand, das Gesicht blass vor Zorn und nass von Tränen.
«Ich weiß nicht, warum du so wütend bist, Helena. Ich weiß auch nicht, warum du weinst. Aber wenn ich das Ziel deiner schlechten
Laune hin, will ich wenigstens wissen, warum. Es tut mir leid, dass ich so plötzlich abreisen muss. Weißt du nicht, wie schwer
mir das fällt? Und du sagst selbst, Manon sei gut in meinen Rollen. Was willst du mehr? Warum bist du so seltsam?»
«Seltsam? Ich bin wie immer, du bist anders, du bist – eben ein feines Fräulein. Jetzt, wo du uns nicht mehr brauchst.»
«Hör auf!» Sie knallte die Krüge auf den Tisch, doch bevor sie damit beginnen konnte, begriff sie, dass eine zornige Erwiderung
das Feuer nur schüren würde. «Bitte, Helena. So ist es nicht. Wenn ich wirklich anders bin, dann nur weil ich Angst habe.
Verstehst du das nicht?»
«Du hast Angst? Wovor? Er hat nach dir geschickt. Er hat dich suchen lassen und will dich in dieses große, vornehme Haus zurückholen.
Wovor solltest du noch Angst haben?»
Sie sah Rosina immer noch wütend an, und endlich begriff sie. Ihr Gesicht wurde weich, und sie schloss Rosina als das frierende
Mädchen, das sie vor Jahren aufgenommen hatte, in die Arme. «Verzeih mir», flüsterte sie. «Ich habe nur an mich gedacht, weil
ich dich so schrecklich vermissen werde. Es ist mir unvorstellbar, dass du uns verlässt.»
«Aber ich will euch nicht verlassen. Ich muss nur …»
«Vielleicht willst du das jetzt nicht. Wenn du aber erst dort bist, wenn dich alle willkommen heißen, wirst du dort auch bald
wieder zu Hause sein. Für uns gibt es kein solches Zuhause, wir haben nur unsere Wagen, in jeder Stadt eine andere schlampige
Wohnung und die Komödienbude, in der wir gerade spielen. Du hast einen Ort. Einen wunderschönen Ort. Du wirst dort glücklich
sein.»
«Nein, Helena, so ist es nicht. Vielleicht war es so, als ihr mich aufnahmt, jetzt nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Den
Ort, von dem du sprichst, gibt es nicht mehr, und das Haus, in das ich zurückkehren werde, ist nicht mein Zuhause, nachdem
ich beinahe mein halbes Leben mit euch verbracht habe. Weißt du nicht, wovor ich wirklich Angst habe?»
«Vor deinem Vater? Dass du ihm nicht mehr genug bist?»
Rosina schüttelte den Kopf, löste sich aus der Umarmung und wischte mit dem Ärmel über die Augen. «Ich habe Angst zurückzugehen,
ja, aber mehr vor den Erinnerungen als vor den Menschen. Ich bin kein Kind mehr, mein Vater und all die Leute, die in seiner
Welt wichtig sind, haben
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