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Die ungehorsame Tochter

Die ungehorsame Tochter

Titel: Die ungehorsame Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Karre, nahm die Holme wieder auf und schob weiter. Es war die letzte Fuhre heute, nur noch eine
     Korbtruhe. Er mochte diese Arbeit nicht. Das Ausliefern der Waren aus der Werkstatt seines Vaters und seines ältesten Bruders
     gab ihm das Gefühl, ein Dienstbote zu sein. War er denn etwas anderes? Fürs Körbeflechten war er nicht gemacht, das stimmte.
     So viel Mühe er sich auch gab, er brauchte doppelt so lange wie seine Brüder, und was seine Hände flochten, hielt nicht. Warum
     hatten sie ihn nicht zur See fahren lassen, damals, als er dreizehn war? Das war das richtige Alter gewesen. Er sei zu schwächlich,
     hatten sie gesagt, aber das stimmte nicht. Sie wollten nur einen haben, den sie herumscheuchen konnten.
    Zu seinem Glück brauchte der Hafeninspektor immer wieder Gehilfen, so hatte er guten – und bezahlten – Grund, der stickigen
     Flechterei wenigstens auf den Fluss zu entkommen. Seine Sehnsucht, Schiffsplanken unter den Füßen zu spüren, geblähte Segel
     über seinem Kopf, war nie so groß gewesen wie in diesen letzten Tagen. Damals hatte er heimlich versucht anzuheuern. Schiffsjungen,
     hatte er gedacht, werden immer gebraucht. Das stimmte, nur hatte er es falsch angestellt. Zwar war er klug genug gewesen,
     nach Hamburg zu gehen, wo ihn keiner kannte, doch dumm genug, sich eitel ein gutes Schiff auszusuchen, eine holländische Bark
     mit Ladung nach Amsterdam, die, so hatte einer der Matrosen ihm erzählt, weiter bis nach der ostindischen Küste segeln würde.
     Der Schiffer hatteihn angesehen, etwas von «Hänfling» und «höchstens für die Kombüse» gemurmelt und ihn zum Schout geschickt. Damit war sein
     Versuch, in ein eigenes Leben zu entkommen, vorbei gewesen. Niemand durfte gemustert werden, ohne beim Schout registriert
     worden zu sein. Das hatte er nicht gewusst. Der hatte nur gelacht und ihn wieder weggeschickt. Er solle mit seinem Vater wiederkommen
     oder wenn er alt genug sei, über sich selbst zu bestimmen.
    Er würde es wieder versuchen und diesmal schlauer anstellen. Bestimmt gab es Schiffer, die mit dem Schout nichts im Sinn hatten.
     Es gab immer welche, die sich nicht um Verordnungen der Admiralität kümmerten und auch gerne die Schoutgebühren sparten. Er
     musste sich nur eine andere Art Schiff aussuchen. Eines, dessen Segel so oft geflickt waren, dass sie kaum noch einem Sturm
     standhielten. Dessen Schiffer einen schmutzigen Kragen und gierige Augen hatte. So einer würde ihn nicht zum Schout schicken,
     sondern unter Deck, bis der Lotse in der Elbmündung von Bord gegangen war. Dafür würde der Schiffer ihm keine Heuer zahlen,
     doch wenn er erst Amsterdam oder London erreicht hatte, lag die ganze Welt vor ihm. Dann war er frei.
    Warum haust du nicht endlich ab?, hatte Luther neulich wieder gefragt. Er hatte nur genickt. Er würde gehen, bald. Wenn er
     wusste, was in jener Nacht geschehen war. Wie einen Nachtwandler zog es ihn immer wieder zu den Vorsetzen beim Packhaus am
     Fluss, wo sie die Tote an Land gebracht hatten. Als warte dort die Erinnerung, als müsse er sie nur aufsammeln wie eine verlorene
     Münze.
    Wäre nicht ein junger Mann aus der Tür des Seiteneingangs gesprungen und beinahe über seine Karre gestolpert,hätte er seine Fuhre an Melzers Kaffeehaus vorbeigeschoben.
    «Filippo», rief eine Stimme aus dem Flur, «warte!»
    Eine junge Frau trat auf die Straße, noch damit beschäftigt, ihren Zopf aus honigblonden Locken am Hinterkopf festzustecken.
     Der Mann, den sie Filippo gerufen hatte, drehte sich lachend nach ihr um. Das Lachen war ungeduldig, und sein Blick kehrte
     schnell zurück auf die Straße, als suche er etwas, dem er nacheilen wollte.
    «Du hast den Zettel liegengelassen», sagte sie, und nun wusste Berno, wer sie war. Ihr klare Stimme klang auf der Bühne anders,
     ein wenig künstlicher, auch lauter, doch selbst ohne die dicke blasse Schminke und die flitterigen Kostüme erkannte er die
     Komödiantin, deren Gesang ihn am Abend auf der Galerie so berührt hatte.
    «Ach, der Zettel», erwiderte der Mann, den sie Filippo genannt hatte. «Ob es jemals einen Tag geben wird, an dem Rudolf keine
     Farben oder Seile oder sonst irgendetwas für seine Werkeleien braucht?»
    Eilig schob er den Zettel in die Tasche seiner Weste aus schon ziemlich schäbigem, doch wunderschön weinrotem, besticktem
     Damast. Mit seinem grasgrünen Samtrock darüber sah er wie der Sommer selbst aus. Berno beneidete ihn glühend um den Mut und
     die

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