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Die ungehorsame Tochter

Die ungehorsame Tochter

Titel: Die ungehorsame Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Möglichkeiten zu solcher Farbenpracht. Die Farben. Da war etwas mit diesen Farben. Als hebe sich ein Vorhang vor einem
     verborgenen Bild, sah Berno die Farben in anderer Umgebung.
    Filippo lief davon, verschwand im Gewimmel auf der Straße, und Berno sah ihm nach, die Hand noch erhoben, doch es war zu spät,
     ihn aufzuhalten. Er war nun ganz sicher. Der war einer der Männer, die am Abend des Unglücksim
Weißen Wal
gewesen waren. Viele waren dort gewesen, es war kaum Luft zum Atmen geblieben, an diesen jedoch glaubte er sich plötzlich
     genau zu erinnern. Wegen der Farben. Dann musste er sich doch auch an ihn, Berno, erinnern. Hatte er ihn nicht angesehen,
     als würde er ihn erkennen? Er konnte ihn fragen, wie lange er in jener Nacht fort gewesen war, was er gesagt oder getan hatte,
     als er zurückkam.
    Wenn er es wusste – doch warum sollte der sich an ihn erinnern, an einen von vielen Betrunkenen im grauen Rock? Er hatte nicht
     weit entfernt gesessen, sogar am selben Tisch, auf der anderen Seite am Ende der langen Bank. Hatte der Mann nicht sogar Luther
     zugenickt? Aber das war nur Gaukelei, nichts als der Wunsch, sich zu erinnern. Er war schon ziemlich betrunken gewesen, da
     sah man alles Mögliche.
    «Ist das Madame Beckers Korbtruhe? Wir hatten zwei bestellt. Hallo! Kann es sein, dass du am hellen Tag träumst?»
    «Filippo», dachte Berno Steuer, als er mit der jungen Frau die Korbtruhe die Treppe hinaufbugsierte. «Ich kann morgen wiederkommen
     und nach Filippo fragen.»
    Aber das würde er nicht tun. Ebenso wenig wie er in den
Weißen Wal
gegangen war, um nach jener Nacht zu fragen. Er musste sich erinnern, aber er wollte nicht, dass es auch andere taten.

KAPITEL 8
    DIENSTAG, DEN 14.   MARTIUS,
MITTAGS
    Irgendetwas hatte sich verändert. Natürlich hatte es das. Bisher war sie Rosina gewesen, sie hatte Hardenstein geheißen, und
     niemand hatte weiter danach gefragt. Danach? Was war «danach»? Manchmal, vor allem in den ersten Jahren, wenn sie nachts aufwachte
     und nicht zurück in den Schlaf fand, wenn sie auf Lies’ und Manons Atem lauschte, mit denen sie oft eine Kammer teilte und
     sich dennoch einsam fühlte, nahm sie sich vor zu erzählen. Die Einsamkeit, hatte sie gelernt, ist am tiefsten, wenn niemand
     da ist, mit dem man sein Leben geteilt hat, der weiß, wie man zu dem wurde, der man nun ist.
    Wenn dann der Tag kam, wenn die Dunkelheit wich und damit die Angst der Verlorenheit, hatte sie es sich stets anders überlegt.
    Wozu darüber reden? Und wie? Sollte sie am Morgen bei einem Stück Brot oder einer Schale Gerstenbrei plötzlich sagen: Jetzt
     will ich euch erzählen, woher ich komme, warum ich bei euch bin? Das war ihr eitel erschienen. Als wäre es wichtig, woher
     sie kam. Jean hatte oft gesagt, niemand hier wolle wissen, woher einer komme, warum einer auf den Straßen lebe. Jeder habe
     sein Schicksal, das gehe niemanden sonst etwas an. So war es gut. Sie wurde gebraucht, und sie fühlte Freundschaft, diese
     besondere Art der Freundschaft, die sonst nur inguten Familien wächst. Wozu noch diese alte Geschichte erzählen?
    Es gab auch immer viel zu viel zu tun, auch deshalb fand sich nie die Gelegenheit für einen Anfang. Die Geschichten der anderen
     kannte sie. Die von Jean und Helena, von Gesine und Rudolf mit ihren Kindern Fritz und Manon, von Titus und Lies. Sie alle
     waren schon als Kinder Komödianten gewesen wie zuvor ihre Eltern. Nur Lies war aus ihrem Dorf geflohen und hatte erst später
     bei den Komödianten ihre Heimat gefunden. Titus sah zwar aus wie ein Wikinger, aber sein Großvater war ein venezianischer
     Arlecchino, der über die Alpen gekommen und nach einem leider nur kurzen Erfolg am Dresdener Hof im Norden geblieben war.
     Maline und Joseph, die beiden Neulinge, stammten aus Familien fahrender Musikanten und Luftspringer.
    Die Geschichten der anderen waren die Geschichten von einem Leben auf der Straße. Von Filippo allerdings wusste sie fast nichts.
     Er war so plötzlich aufgetaucht wie Muto, der stumme Junge, den sie vor einigen Jahren bei sich aufgenommen hatten wie einen
     struppigen jungen Hund. Auch wenn nicht mehr gewiss war, ob Muto wirklich nicht sprechen konnte oder ob er die Sprache nur
     verweigerte, fragte ihn niemand. Er hätte vielleicht geantwortet. Filippo jedoch war so verschlossen wie sie selbst.
    Manchmal fragte sie sich, wie ihr die anderen schon bald so viel Wärme hatten entgegenbringen können, obwohl sie alles getan
     hatte,

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