Die ungehorsame Tochter
Wiederholung
zu mühsam oder langweilig. Unermüdlich ließ sie sich besondere Finessen der Tanzschritte zeigen, übte sie den Ausdruck der
Gefühle in den Melodien. Nur einmal gab es an diesem Tag Streit. Gesine, die sich so oft wie möglich in die Kulissen schlich,
um die Fortschritte ihrer Tochter zu beobachten, stand plötzlich mitten auf der Bühne, die dünnen Arme in die Hüften gestemmt,
die Stirn zornig gekraust und den Mund schmal vor Ärger.
«Nein, Jean!», rief sie. «Das ist zu viel. Zu viel! Wenn du dieses Lied singst», fuhr sie Rosina an, «mag das angehen. Aber
Manon ist noch ein Kind. Sie wird nicht so unzüchtig tanzen und dazu diese Worte singen. Das wird sie nicht. Ich verbiete
es.»
Nun waren diese unzüchtigen Worte nichts als das Lied einer Schäferin, die einem schönen jungen Poeten von süßem Honig, Rosenduft
und seligem Schweben im Mondenlicht sang. Ein Lied, das bei einem Mindestmaß anPhantasie tatsächlich ein Elysium der Liebe versprach, das aber so oder so ähnlich tausendmal gesungen worden war, ohne dass
Gesine auch nur eine Augenbraue gehoben hatte. Nun war sie durch nichts und von niemandem zu überzeugen, dass ein solches
Lied nun einmal vom Publikum erwartet und geliebt werde, dass gerade dieses reine Poesie sei und ganz gewiss weder das Zartgefühl
des Publikums noch die Reputation ihrer Tochter verletze.
«Nein», sagte sie, verschränkte die Arme vor der Brust und machte ein Gesicht wie der Koloss von Rhodos.
Es war Klemens Lenthe, der schließlich die Schlacht gegen Gesine für Manon, Rosina und Jean gewann. Er musste schon eine ganze
Weile im dunklen Saal gestanden und zugehört haben, als Jean die Geduld verlor und mit dramatisch gerauftem Haar Thalia und
Erato um Hilfe anrief, sie möchten ihn und seine Kunst endlich von Dilettantismus und Bigotterie im eigenen Haus erlösen.
Klemens sprang die Stufen zur Bühne herauf, verneigte sich ehrerbietig vor Gesine, nahm Jean beiseite, und in weniger als
drei Minuten war der Konflikt beendet. Manon durfte ihr Lied singen, allerdings mit frommem Blick und ohne Jean, den verliebten
Poeten, mit bis über die Knie gerafften Röcken zu umtanzen. Sein Vorschlag, der jungen Schäferin zudem noch eine Augenmaske
aus weißen Federn umzubinden, wurde jedoch von Manon, die der ganzen Debatte mit überraschender Klugheit stumm zugehört hatte,
energisch zurückgewiesen, und Gesine stimmte ihr darin zum Erstaunen aller umgehend zu. Eine Maske, sagte sie, käme nicht
in Frage. Monsieur Lenthe möge verzeihen, er könne das nicht wissen, doch die wirke noch um vieles aufreizender als ein nacktes
Gesicht, sagte sie und dachte, dass sie genug damit zu tunhatte, Rosinas Kostüme für Manon zu ändern. In diesen Tagen war wirklich keine Zeit, auch noch ein so kompliziertes Federutensil
herzustellen.
«Ihr seid ein guter Diplomat, Cousin», sagte Rosina leise, als Jean und Manon ihre Probenarbeit wiederaufgenommen hatten.
«Ihr habt uns eine endlose Debatte erspart.»
«Glaubt Ihr? Mir schien es ganz einfach.» Er sah sie amüsiert an und fuhr fort: «Ich dachte, ein Prinzipal ist dazu da, dass
ihm alle gehorchen.»
«Oh, wir gehorchen ihm. Nur nicht so schnell. Und vielleicht nicht immer.»
Sie beobachtete Manon, die ihr Lied nun noch einmal sang, jedoch ohne dabei herumzuhüpfen wie eine junge Amsel, und fand,
dass diese Darbietung nun erst recht aufreizend wirke, aber Gesine stand am Rand der Bühne, sah auf den bis an die Knöchel
fallenden Rock ihrer Tochter und zeigte ein zufriedenes Gesicht.
«Jean ist enttäuscht, weil nun nichts aus Eurer Komödie wird. Werdet Ihr sie später einmal schreiben?»
«Wer weiß? Aber nein, sicher nicht. Tatsächlich habe ich keinerlei poetische Ambitionen. Es war nur der einfachste Weg, Euch
unauffällig nahe zu sein. Verzeiht Ihr mir meine Scharade?»
«Es gibt nichts zu verzeihen.»
Hat er, der Mann in dem großen Haus mir verziehen, wollte sie fragen. Sie fragte nicht. Es würde noch viel Zeit sein auf dem
langen Ritt. Je näher der Tag der Abreise kam, umso weniger konnte sie in ihren Gedanken das Wort «Vater» formen. Für sie
war er immer nur «der Mann in dem großen Haus».
Sie spürte Klemens’ Hand auf ihrem Arm und hörteihn leise sagen: «Habt Ihr Euch nun entschieden, wann wir reisen können? Ich muss Euch drängen, wenn wir nicht zu spät kommen
wollen.»
«Ich weiß. Gebt mir noch einen Tag, noch morgen. Habt Ihr schon ein
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