Die ungehorsame Tochter
schon lange keine Macht mehr über mich. Nein, ich fürchte etwas ganz anderes: dass ihr mich nicht
mehr braucht, wenn ich erst einmal gegangen bin.»
Nun war es an Helena, ihre Tränen zu trocknen. «Ich dachte immer, du seist so klug», sagte sie und versuchte ein Lachen. «Wie
kannst du so etwas Törichtes denken?»
«Nur weil ich töricht bin?»
«Ich wüsste keinen anderen Grund. Absolut keinen. Und nun lass uns endlich den Tisch decken. Und hol mir schnell den Wein.»
Sie putzte sich geräuschvoll die Naseund erklärte: «Ich brauche jetzt dringend ein Glas. Ein großes.»
«Ich weiß noch, wie es war, als du kamst», sagte Manon, als sich die ganze Becker’sche Gesellschaft bald darauf um den viel
zu kleinen Tisch drängte. «Wir haben in einem Bett geschlafen, und ich dachte, du bist ein Gespenst, weil Lies mir erzählt
hatte, um Gespenster sei immer ein eiskalter Hauch.»
«Daran erinnerst du dich?», fragte Gesine ihre Tochter. «Du warst kaum sechs Jahre alt.»
«Ich erinnere mich genau. Aber ich hatte keine Angst.»
«Ich umso mehr.» Rosina lachte. «Ich war fest entschlossen davonzulaufen, sobald ihr alle eingeschlafen wart.»
«Und warum hast du es nicht getan?», fragte Filippo.
«Weil ich fester als alle anderen geschlafen habe, weil es draußen kalt und im Bett warm war.»
«Und dann bist du geblieben und hast singen und tanzen gelernt?»
«Das brauchte sie nicht», sagte Jean. «Nun ja, tanzen doch. Sie bewegte sich schon hübsch zierlich, nur ein wenig
zu
zierlich für unsere Bühne. Aber sie sang wie eine Lerche, das reinste Goldkehlchen. Wenn ich das von Anfang an gewusst hätte,
hätte ich gar nicht so lange mit Helena gestritten.»
«Gestritten? Um mich?»
«Natürlich. Du musst in jener Nacht wirklich wie ein Stein geschlafen haben, wenn du das nicht gehört hast.» Titus schnitt
sich ein großes Stück Ochsenfleisch ab und schob es in den Mund. «Helena wollte unbedingt, dass Jean dich am nächsten Morgen
aufs nächste Schloss bringt. Sie hat gesagt, du kämst gewiss aus feinemHaus, man würde uns henken, wenn man dich bei uns fände.»
«Aber bei uns», sagte Jean, lehnte sich zurück und strich mit beiden Hände über seine geblümte Weste, «gilt das Wort des Prinzipals.»
«Unbedingt.» Helenas Augen blitzten vergnügt. «Jedenfalls solange er auf die richtigen Leute hört. Natürlich hatte ich Angst,
Rosina. Jeder Blinde und Taube konnte sehen und hören, dass du kein Kind aus der Gosse warst, keine, die niemand vermissen
würde. Wie hätte ich auf die Idee kommen können, du seist eine herrschaftliche Tochter? Die brennen höchstens mit betrügerischen
Liebhabern durch. Ich dachte, du bist eine kleine Zofe von einem der Schlösser oder Herrenhäuser, es gibt ja etliche dort,
und hattest an der Erziehung der Töchter teilgehabt. Man musste dich sehr gequält haben, dachte ich, wenn du bereit warst,
einen warmen sicheren Ort für die Straße zu verlassen. Jeder weiß, was einem hübschen Mädchen in den Häusern der großen Herren
– na, du weißt schon, was ich meine.»
«Außerdem waren wir in Eile», fuhr Jean fort. «Wir wollten nach Braunschweig. Wenn wir dich als den schmutzigen Jungen mitnähmen,
als den ich dich gefunden hatte, würde das niemanden kümmern.»
«Nein», sagte Rosina, «es hat niemanden gekümmert.»
«Dein Vater hat dich nicht suchen lassen?», fragte Filippo.
Rosina schüttelte den Kopf, und Helena sagte schnell: «Das hat er ganz sicher. Wir wissen es nur nicht, weil er sie nicht
gefunden hat. Das Land ist weit, und in Sachsen gibt es viele Straßen.»
«Warum bist du eigentlich weggelaufen, Rosina?»Filippo war nicht so leicht zufriedenzustellen. «Du musst doch einen veritablen Grund gehabt haben.»
«Und du hast einen veritablen Grund, dich endlich an die Arbeit zu machen», sagte Titus, schob seinen Stuhl zurück und zog
Filippo am Kragen hoch. «Avanti. Rudolf wartet auf deine Hilfe bei seinem bockigen Flugwerk.»
Anne hatte sich nicht geirrt. Die Proben mit Manon waren für sie nicht viel mehr als eine Wiederholung all dessen, was sie
in den letzten Jahren begierig von den Kulissen oder aus einer der hinteren Reihen verfolgt hatte. Nur Rosinas Rollen in den
neuen, erst in den letzten Wochen aufgeführten Stücken bedurften noch einiger Übung. War Manon seit dem letzten Jahr launisch
und widerborstig gewesen, so zeigte sie sich nun als eifrige Schülerin. Keine Probe wurde ihr zu viel, keine
Weitere Kostenlose Bücher