Die ungehorsame Tochter
die Fahrt flußaufwärts auf ihn wartete, von der Lotsgaliote nach
Cuxhaven zurückbringen. Das war auch für sie die letzteMöglichkeit, das Schiff zu verlassen und umzukehren. Es blieb nicht mehr viel Zeit, sie musste sich nun entscheiden. Aber
gab es denn noch etwas zu entscheiden? Sie stand an der Reling, sah auf das vorbeigleitende Land und erinnerte sich an die
Fahrt, die sie im April vor vier Jahren das erste Mal auf die Elbe geführt hatte.
Damals war sie in entgegengesetzter Richtung gefahren, auch das hatte einer Entscheidung bedurft. Bis vor wenigen Wochen hatte
sie fest daran geglaubt, dass die richtig gewesen war. Auch an jenem Sommertag hatte sie an der Reling gestanden, aufgeregt
und unsicher, aber entschlossen, viel entschlossener als heute. Während sie damals voller Spannung die Veränderung der Flusslandschaft
beobachtet hatte, den kaum sichtbaren Übergang vom Meer in die breite, von inselgroßen Sandbänken zerteilte Mündung des Flusses,
das flache grüne Land, das im Norden erst kurz vor ihrem Ziel hinter dem plötzlich ansteigenden Hochufer verschwand, im Süden
nach der Teilung des Flusses in Norder- und Süderelbe zu einem Labyrinth von saftig grünen Inseln wurde. Da war von ferne
schon die trutzige Umwallung der großen Stadt zu erkennen gewesen, und für einen schwachen Moment hatte sie sich doch gewünscht,
flüchten zu können.
Auch heute hatte sie all das gesehen, wenn auch in umgekehrter Reihenfolge, dennoch hatte sie nichts davon wahrgenommen. Nicht
die sanfte Insellandschaft im Fluss, nicht die von weißem Sand oder Schilf gesäumten Ufer mit den Mündungen kleiner Flüsse,
die gedrungenen Kirchlein inmitten der weit verstreut liegenden Dörfer der Fischer und Bauern, nicht die noch winterlich kahlen
Höhen, die sich hinter dem Fischerdorf Blankenese unversehens in die Marsch senkten. Auch nicht die Schiffe,die ihnen begegneten, und den Himmel, der immer höher schien, je mehr sich der Fluss zum Meer hin weitete.
Jules nahm sie nicht gerne mit, das wusste sie, aber er hatte auch nicht versucht zu erklären, was für sie falsch oder richtig
war. Hätte er versucht, ihr auszureden, mit ihm und Sophie zu segeln, wäre es vielleicht einfacher. Stärke entzündet sich
stets am Widerstand. Als sie von einer Minute auf die andere beschlossen hatte, das Haus am Neuen Wandrahm zu verlassen, hatte
sie gefürchtet, irgendjemand werde es zu verhindern wissen. Augusta oder Christian, schließlich Jules Braniff. Sie alle hatten
sich wohl bemüht, sie zum Bleiben zu überreden, doch nicht sehr nachdrücklich. Seltsamerweise hatte sie das gekränkt. Als
wären sie und ihre Ehe dieser Mühe nicht wert.
«Ich müsste alles tun, um dich aufzuhalten, Anne», hatte Augusta gesagt, «Claes’ wegen und um zu verhindern, dass sein Haus
zum Ziel des Gespötts wird. Wenn du aber wirklich glaubst, gehen zu müssen, werde ich dich nicht aufhalten. Weil ich fest
von deiner Rückkehr überzeugt bin.»
Sie hatte nicht nach dem Warum gefragt. Dafür war Anne ihr dankbar. Es war so schwer, es zu erklären. Als sie Claes heiratete,
war sie fünfunddreißig Jahre alt gewesen, schon lange eine alte Jungfer, und hatte gedacht, das Leben zu kennen. Ein fataler
Irrtum. Wahrscheinlich war sie einfach nicht für die Ehe geschaffen. War es überhaupt möglich, so spät noch aus einem tätigen,
verantwortungsvollen Leben, wie es das ihre bis dahin gewesen war, in die Rolle der versorgten und bedienten Gattin zu schlüpfen?
In ein Leben, das ihr keine anderen Entscheidungen abverlangte als die Auswahl ihrer Garderobe oderder Sonntagabendlektüre? Sie hatte sich immer wieder versichert, die Sehnsucht nach ihrer Insel und besonders nach ihrem Platz
im St. Roberts’schen Handelskontor sei nichts als die Sehnsucht nach vertrauten Gewohnheiten, die sie ablegen und durch neue ersetzen
könne wie ein altes Mieder. Schließlich hatte sie etwas viel Besseres dagegen eingetauscht. Oder gab es etwas Besseres als
die Liebe?
Und nun? War sie so schwach, dass sie fliehen musste, anstatt auszuharren und zu kämpfen? Das war das Problem: Sie wusste
nicht wirklich, worum, und auch nicht, wie sie kämpfen sollte. In der ersten Zeit ihrer Ehe hatte sie sich stets zu Geduld
ermahnt, wenn sie spürte, dass Claes ihren Gedanken nicht folgte. Wenn er nicht verstand, dass sie sich immer wieder fremd
und ohne Aufgaben und Ziele fühlte. Im Gegensatz zu vielen seiner Freunde
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