Die ungehorsame Tochter
nach den Postämtern ihrer Herkunft geordnet, auf seinen Tisch gelegt. Nur eines
hatte er übersehen, das lag akkurat gefaltet und versiegelt in der Mitte des Tisches. Noch bevor Claes danach griff, erkannte
er die kräftigen Züge der vertrauten Handschrift, und er begann zu frieren.
Annes knappe Zeilen verrieten nur das Nötigste. Sie bedauere, erklärte sie, diesen Schritt tun zu müssen, aber er sei unumgänglich.
Sophie habe ihre Scheidung beantragt und beschlossen, die Stadt sofort zu verlassen, da man ihr ein langwieriges Verfahren
mit ungewissem Ausgang avisiert habe. Es sei ihr unerträglich, während der gewiss Monate dauernden Prozedur zur Zielscheibe
der Neugierigen zu werden. Zweifellos sei es auch in seinem, Claes’, Sinne, wenn ihm seine Tochter diese Peinlichkeit erspare.
Sophie lasse grüßen, Jules Braniff schließe sich dem an.
Ich hatte nur eine kurze Zeit zu überlegen,
las er weiter.
Dennoch bin ich überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben: Ich begleite deine Tochter. Es wird dich und die
Zirkel in den Kaffeehäusern und Salons beruhigen, wenn sie chaperoniert wird, wie es die Schicklichkeit erfordert. Dir erlaubt
mein Fortsein auch, dich von der Ehe, die, wie du sagtest, ein einziges Problem ist, zu erholen. Anne St. Roberts.
Augusta Kjellerup saß im bequemsten Sessel ihres Salons und döste über den ersten Entwürfen für die Übersetzung von Holbergs
Der verwandelte Bauer
. Sie erkannte den Schrei ihres Neffen erst nach kurzem Erschrecken als den Ruf ihres Namens. So ließ sie sich keine Zeit,
zu bedenken, ob er zornig oder entsetzt geklungen hatte, sondern eilte, ohne auch nur in ihre Schuhe zu schlüpfen, so schnell
sie es vermochte, die Treppe hinab. Leiderwar es nur eine Etage. An müden Tagen hatte sie sich oft gewünscht, die Treppe möge kürzer sein. Heute wünschte sie das Gegenteil.
Claes stand vor der weit offenen Kontortür, die Halsbinde geöffnet, den Brief in der erhobenen Hand, und sah ihr entgegen.
«Zorn», dachte sie enttäuscht, «eindeutig Zorn.»
Sie schob ihn energisch in das Kontor, befahl Elsbeth, die mitsamt ihren Mädchen mit erschreckten Augen an der Küchentreppe
stand und heraufstarrte, den Rosmarinbranntwein zu holen, und verschwand ebenfalls im Kontor.
Er war wütend? Sie war es nicht minder. Augusta Kjellerupp hatte nach dem frühen Tod ihres Mannes und ihrer beiden Söhne viele
Jahre allein in Kopenhagen gelebt. Sie war nach Hamburg zurückgekehrt, nachdem die erste Frau ihres Neffen gestorben und Sophie
zu jung gewesen war, dem Haushalt vorzustehen. Mit der Rückkehr in die Stadt ihrer Kindheit und dem Einzug in das Haus ihres
Neffen hatte sie manche Bequemlichkeit aufgegeben, sie hatte es gerne getan und nie bereut. Der turbulente Haushalt am Neuen
Wandrahm entsprach viel mehr ihren Vorlieben als ihre komfortable Witwengruft, so hatte sie es ausgedrückt, in Kopenhagen.
Sie hatte ihren Mann, von ihren Eltern bestimmt und von ihr als braver Tochter hingenommen, bald sehr geliebt. Sie liebte
und respektierte auch den Sohn ihres Bruders. In diesen Tagen allerdings musste sie sich sehr um diese Liebe bemühen.
Er stand vor ihr, als habe sie sich an seinem Tafelsilber vergriffen, und hielt den Brief wie ein erboster Lehrer seinen Rohrstock.
«Kannst du mir das hier, bitte!, erklären?»
Augusta zupfte ihr Brusttuch zurecht und setzte sichauf einen der harten Lehnstühle. «Ich wäre dir dankbar, wenn du dich auch setztest. Mein Hals wird steif, wenn ich zu dir
aufsehen muss. Wegen des Briefes solltest du nicht mich, sondern Anne fragen.»
«Anne ist nicht da, das weißt du sehr genau. Was hat das hier», wieder wedelte er mit dem schon ziemlich zerkrumpelten Papier
herum, «das hier zu bedeuten?»
«Ich habe den Brief nicht gelesen, mein Lieber, also weiß ich auch nicht, was deine Frau dir geschrieben hat. Ich nehme aber
an, dass sie sich darin verabschiedet. Das hat es zu bedeuten.»
«Verabschiedet? Was heißt das? Sie schreibt nur, dass sie mit Sophie und diesem verdammten Braniff fortreist. Um Sophie zu
chaperonieren! So ein Unsinn. Als brauchte Sophie jetzt noch eine Anstandsdame. Von Anstand kann da keine Rede mehr sein.
Wohin reisen sie? Und wann kommt sie zurück?»
«Das hat sie nicht erwähnt?» Augusta lehnte sich zurück, sie spürte plötzlich Genugtuung. Die Wohligkeit dieses Gefühls bereitete
ihrem Gewissen nur eine winzig kleine Last. Die Tür öffnete sich,
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