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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Anwesende ihre Gefühle nicht mehr zurückhalten zu können. Der grauhaarige Mann mit den schmuddeligen Stiefeln brach in heftigen Beifall aus und warf dabei wütende Blicke in Christoffs Richtung. Etliche andere hatten wieder begonnen, Christoff anzuschreien, und die Frau in dem scharlachroten Anorak wiederholte wieder und wieder, nur diesmal lauter: »Das ist es, das ist es, das ist es.« Ich verspürte eine merkwürdige Heiterkeit, und indem ich meine Stimme über der anwachsenden Aufregung erhob, fuhr ich fort:
    »Dieser mangelnde Mut geht meiner Meinung nach häufig einher mit gewissen anderen unliebsamen Eigenschaften. Da ist etwa eine Feindseligkeit dem introspektiven Ton gegenüber, was meist in einem übertriebenen Gebrauch der gequetschten Kadenzen zum Ausdruck kommt. Eine Vorliebe dafür, fragmentarische Passagen sinnlos miteinander zu verbinden. Und auf eher persönlicher Ebene ein gewisser Größenwahn, der sich als bescheidenes, freundliches Gebaren geriert...«
    Ich war gezwungen abzubrechen, weil alle Anwesenden jetzt auf Christoff einschrien. Christoff seinerseits hielt seinen blauen Hefter hoch, blätterte in der Luft die Seiten auf und rief: »Die Fakten sind doch hier! Hier!«
    »Natürlich gibt es da«, rief ich, den Lärm übertönend, »noch einen weitverbreiteten Mangel. Nämlich die Überzeugung, daß etwas allein schon dadurch zu einem Faktum wird, daß man es in einem Ordner abheftet!«
    Diese Bemerkung löste schallendes Gelächter aus, in dessen Zentrum sich eine aufkeimende Wut befand. Dann stand die junge Frau mit den dicken Brillengläsern auf und ging auf Christoff zu. Das tat sie ganz langsam und betrat jetzt das kleine Stückchen Raum, das bis dahin um den Cellisten herum freigeblieben war.
    »Sie alter Narr«, sagte sie, und wieder drang ihre Stimme deutlich vernehmbar durch den Tumult. »Sie haben uns alle mit hinuntergezogen.« Dann schlug sie Christoff durchaus mit Bedacht mit dem Handrücken ins Gesicht.
    Die Leute schwiegen bestürzt. Dann plötzlich standen sie von ihren Stühlen auf und drängten einander beiseite in dem Versuch, zu Christoff zu gelangen; der Wunsch, dem Beispiel der jungen Frau zu folgen, hatte offensichtlich mit einiger Dringlichkeit von ihnen Besitz ergriffen. Ich merkte, daß eine Hand mich bei der Schulter schüttelte, aber für den Augenblick war ich zu sehr in Anspruch genommen von dem, was sich da vor mir tat, als daß ich hätte reagieren können.
    »Nein, nein, das reicht jetzt aber!« Dr. Lubanski hatte Christoff irgendwie als erster erreicht und hob die Hände. »Nein, laßt Henri doch in Ruhe! Was bildet ihr euch denn ein? Das reicht jetzt aber!«
    Möglicherweise bewahrte nur Dr. Lubanskis Einschreiten Christoff vor einem größeren Angriff. Ich konnte einen flüchtigen Blick auf Christoffs verblüfftes, verängstigtes Gesicht werfen, und dann schloß sich ein wütender Kreis um ihn, und ich konnte ihn nicht länger sehen. Die Hand schüttelte mich wieder bei der Schulter, und als ich mich umdrehte, sah ich den Mann mit dem Bart und in der Schürze – mir fiel wieder ein, daß er Gerhard hieß -, der eine dampfende Schüssel mit Kartoffelpüree trug.
    »Hätten Sie jetzt gern etwas zu essen, Mr. Ryder?« fragte er. »Tut mir leid, daß ich so spät damit komme. Aber sehen Sie, wir mußten erst einen neuen Topf aufsetzen.«
    »Das ist sehr freundlich von Ihnen«, antwortete ich, »aber eigentlich muß ich jetzt doch endlich gehen. Mein Junge wartet nämlich auf mich.« Dann führte ich ihn ein wenig weg von dem Tumult und sagte zu ihm: »Seien Sie doch so nett und zeigen Sie mir, wo der Vordereingang ist.« Denn gerade in dem Augenblick erinnerte ich mich tatsächlich daran, daß dieses Café und das, in dem ich Boris gelassen hatte, in Wirklichkeit Teile ein und desselben Gebäudes waren, da dies eines jener Lokale war, die verschiedene Räume anboten – die auf verschiedene Straßen gingen – und sich an eine jeweils unterschiedliche Klientel wandten.
    Der Mann mit dem Bart war sichtlich enttäuscht, daß ich nichts essen wollte, doch er faßte sich schnell wieder und sagte: »Natürlich, Mr. Ryder. Hier entlang.«
    Ich folgte ihm zum vorderen Teil des Raumes und um die Theke herum. Er klinkte eine kleine Tür auf und bedeutete mir, daß ich hindurchgehen sollte. Während ich das tat, schaute ich noch ein letztes Mal zurück und sah den Mann mit dem rundlichen Gesicht auf einem Tisch stehen und Christoffs blauen Hefter in der Luft

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