Die Ungetroesteten
Aber wissen Sie, ich stelle mir vor, daß es für jemanden wie Sie genau so sein muß, für jemanden mit Ihrem Talent, wenn Sie in einer ruhigen Umgebung eine Stunde allein mit dem Klavier sind. Daß es so für die wirklichen Genies sein muß. Sie werden zwischen Ihren grandiosen musikalischen Einfällen umherwandern. Sie werden einen überprüfen, den Kopf schütteln, ihn wieder wegstecken. So schön er auch sein mag, es war doch nicht das, wonach Sie gesucht haben. Ha! Wie wunderbar es in Ihrem Kopf zugehen muß, Mr. Ryder! Wie gerne wäre ich in der Lage, Sie auf der Reise zu begleiten, auf die Sie sich in dem Augenblick begeben, in dem Ihre Finger die Tasten berühren. Aber natürlich, Sie werden zu Gefilden aufbrechen, zu denen ich Ihnen unmöglich folgen kann. Wie ich Sie beneide, Mr. Ryder!«
Undeutlich murmelte ich etwas, und eine Weile fuhren wir weiter, ohne daß ein Wort geredet wurde. Dann sagte Hoffman:
»Also, meine Frau, ganz am Anfang, als wir noch nicht verheiratet waren. Ich glaube, so hat sie sich unser gemeinsames Leben vorgestellt. Irgendwie so, Mr. Ryder. Daß wir Arm in Arm mit unserem Einkaufskorb in irgendein herrliches, menschenleeres Museum gehen. Obwohl sie natürlich nie an so etwas Luxuriöses gedacht hätte. Wissen Sie, meine Frau stammt aus einer Familie mit vielen überaus talentierten Vorfahren. Ihre Mutter war eine ausgezeichnete Malerin. Ihr Großvater war einer der bedeutendsten flämischen Dichter seiner Generation. Aus einem unerfindlichen Grund ist ihm nicht die Beachtung zuteil geworden, die er verdient hätte, aber das ändert nichts an seiner Bedeutsamkeit. Ach, und da gibt es noch mehr in der Familie, und alle sehr talentiert. Da sie in einer solchen Familie aufgewachsen ist, sind Schönheit und Talent für sie selbstverständlich gewesen. Wie hätte es auch anders sein können? Glauben Sie mir, Mr. Ryder, das hat zu einigen Mißverständnissen geführt. Ganz am Anfang unserer Beziehung hat es sogar zu einem riesigen Mißverständnis geführt.«
Er schwieg wieder und starrte eine Weile auf die sich vor uns erstreckende Straße.
»Die Musik war es, die uns zusammengeführt hat«, sagte er schließlich. »Wie oft haben wir in einem der Cafés in der Herrengasse gesessen und über Musik geredet! Oder besser gesagt, ich habe geredet. Ich nehme an, ich habe geredet und geredet. Ich weiß noch, daß ich einmal mit ihr durch den Volksgarten gegangen bin und bis ins kleinste Detail, vielleicht eine volle Stunde lang, meine Empfindungen hinsichtlich Mullerys Ventilations beschrieben habe. Natürlich, wir waren jung, wir hatten die Zeit, uns solchen Dingen zu widmen. Selbst damals hat sie nicht viel geredet, aber sie hat sich angehört, was ich zu sagen hatte, und ich erkannte, daß sie tief bewegt war. O ja. Ach übrigens, Mr. Ryder, ich habe gerade gesagt, daß wir jung waren, aber ich denke, daß wir beide damals nicht mehr so ganz jung gewesen sind. Wir waren beide in dem Alter, in dem wir gut und gern schon eine Weile hätten verheiratet sein können. Vielleicht hatte sie das Gefühl, unter einer Art Druck zu stehen, wer weiß? Jedenfalls haben wir bald auch vom Heiraten gesprochen, ich war ja so verliebt in sie, Mr. Ryder, vom ersten Augenblick an war ich so verliebt in sie. Und sie ist damals so schön gewesen. Auch heute noch würden Sie sofort sehen, wie schön sie einmal gewesen sein muß. Aber schön auf eine ganz besondere Art und Weise. Auf den ersten Blick schon konnte man sehen, daß sie ein feines Gespür für alles Höhere hatte. Ich scheue mich nicht, vor Ihnen zuzugeben, daß ich sehr verliebt in sie gewesen bin. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was es für mich bedeutet hat, als sie einwilligte, meine Frau zu werden. Ich dachte, von nun an würde mein Leben eine einzige Freude, eine immerwährende, ununterbrochene Freude sein. Aber schon ein paar Tage später, ein paar Tage, nachdem sie eingewilligt hatte, meine Frau zu werden, kam sie mich das erste Mal in meinem Zimmer besuchen. Ich arbeitete damals im Hotel Burgenhof, und ich hatte ganz in der Nähe in der Glockenstraße ein Zimmer gemietet, nicht weit vom Kanal. Kein besonders reizvolles, aber ein durchaus passables Zimmer. Es gab ganz anständige Bücherregale an der einen Wand und am Fenster einen Schreibtisch aus Eichenholz. Und wie ich schon sagte, das Zimmer ging auf den Kanal. Es war im Winter, ein herrlicher, sonniger Vormittag im Winter, und ein wunderschönes Licht fiel in das Zimmer. Natürlich
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