Die Ungetroesteten
hatte ich alles aufgeräumt, alles richtig schön gemacht. Sie kam herein und schaute sich um, sie schaute sich überall um. Dann fragte sie leise: ›Aber wo komponierst du denn?‹ Ich erinnere mich sehr gut daran, an diesen einen Moment, ich erinnere mich noch lebhaft daran, Mr. Ryder. Ich sehe das als den Wendepunkt in meinem Leben an. Und damit übertreibe ich nicht, Mr. Ryder. In vielerlei Hinsicht, so sehe ich das jetzt, hat mein gegenwärtiges Leben in dem Augenblick begonnen. Christine stand beim Fenster, in diesem Januarlicht, die Hand beziehungsweise die Finger hatte sie auf dem Schreibtisch, so als wolle sie sich abstützen. Sie sah wunderschön aus. Und dann stellte sie mir ehrlich überrascht diese Frage. Sehen Sie, Mr. Ryder, sie war verwirrt. ›Aber wo komponierst du denn? Es gibt ja gar kein Klavier hier?‹ Ich wußte nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich begriff sofort, daß es da ein Mißverständnis gegeben hatte, ein Mißverständnis katastrophalen, tragischen Ausmaßes. Können Sie es mir verdenken, Mr. Ryder, daß ich in Versuchung war, mich durch eine Ausrede zu retten? Richtig gelogen hätte ich nicht. O nein, nicht einmal um mich zu retten. Aber ich befand mich wirklich in einer schwierigen Lage. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, erschauere ich durch und durch, auch jetzt noch, während ich Ihnen davon erzähle. ›Aber wo komponierst du denn?‹ – ›Ja, du hast recht, es gibt kein Klavier hier‹, sagte ich fröhlich. ›Hier gibt es nichts. Kein Notenpapier, nichts. Ich habe beschlossen, zwei Jahre lang nicht mehr zu komponieren.‹ Das habe ich zu ihr gesagt. Ich kam sehr schnell damit heraus, ich habe es nach außen hin ohne das kleinste Zeichen von Besorgtheit und ganz ohne Zögern gesagt. Ich nannte sogar ein exaktes Datum, an dem ich wieder mit dem Komponieren anfangen wollte. Aber vorläufig, ja vorläufig würde ich nicht mehr komponieren. Was hätte ich denn sagen können, Mr. Ryder? Hätte ich diese Frau ansehen sollen, diese Frau, die ich so leidenschaftlich liebte und die erst ein paar Tage zuvor eingewilligt hatte, meine Frau zu werden, hätte ich das denn kampflos hinnehmen sollen? Hätte ich zu ihr sagen sollen: ›Ach, Liebes, es ist alles nur ein Mißverständnis gewesen. Selbstverständlich gebe ich dich frei. Bitte, laß uns jetzt auseinandergehen...‹ Das konnte ich doch nicht, Mr. Ryder. Sie mögen denken, daß ich nicht ehrlich gewesen bin. Aber das wäre zu streng. Denn sehen Sie, an diesem Punkt meines Lebens damals ist das, was ich da gesagt hatte, nicht ganz und gar gelogen gewesen. Ich hatte tatsächlich die Absicht, eines Tages mit einem Instrument zu beginnen, und es stimmt, ich hatte es wirklich immer schon einmal mit dem Komponieren versuchen wollen. Also war es nicht ganz gelogen. Ich bin nicht ganz aufrichtig gewesen, das gebe ich zu. Aber was hätte ich denn sonst tun sollen? Ich konnte sie nicht gehen lassen. Also habe ich ihr erzählt, ich hätte beschlossen, für die kommenden zwei Kalenderjahre mit dem Komponieren auszusetzen. Um meinen Kopf klar zu bekommen und auch meine Gefühle, oder irgend so etwas, ich weiß noch, daß ich eine ganze Weile darüber geredet habe. Und sie hat mir zugehört, hat alles in sich aufgenommen und mit ihrem schönen, intelligenten Kopf zu diesem Unsinn genickt, den ich ihr da erzählte. Aber was hätte ich denn machen sollen, Mr. Ryder? Und wissen Sie, nach diesem Vormittag ist sie nie wieder auf mein Komponieren zu sprechen gekommen, nie wieder in all diesen Jahren. Übrigens, Mr. Ryder, ich sehe, Sie wollen eine Frage stellen, seien Sie versichert, ich werde es Ihnen erzählen. An diesem Vormittag, auch während der Zeit, als ich ihr den Hof machte, während all der Spaziergänge am Kanal entlang, als wir uns zum Kaffeetrinken in einem der Cafés in der Herrengasse trafen, habe ich sie niemals, niemals absichtlich glauben lassen, ich würde komponieren. Daß ich die Musik immer schon geliebt hatte, daß sie jeden Tag meinen Geist beflügelte, daß ich jeden Morgen beim Aufwachen Musik im Herzen hatte, das ja, das habe ich durchblicken lassen, und das ist auch die Wahrheit gewesen. Aber ich habe sie nie bewußt in die Irre geführt, Mr. Ryder. O nein, nie. Es war einfach nur ein schreckliches Mißverständnis. Da sie nun einmal aus so einer Familie stammte, hat sie unweigerlich angenommen... Wer weiß, Mr. Ryder. Aber bis zu diesem Vormittag in meinem Zimmer hatte ich nie auch nur mit einem einzigen Wort
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