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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Dann sind wir bei seinem Bauernhaus angekommen. Er hat es wirklich schön renoviert, viele Räume sind jetzt richtig gemütlich. Wir sind in das große Zimmer gegangen und haben Licht gemacht, und ich habe mich umgeschaut und ein bißchen mit ihm geplaudert. Ich habe ihm angeboten, ein paar Experten zu bestellen, die sich um das Problem mit dem Schimmel an den Wänden kümmern könnten. Er schien mich gar nicht zu hören, sondern saß auf seinem Stuhl einfach nur da, mit diesem entrückten Blick. Dann sagte er, daß er etwas trinken wolle. Nur ein Schlückchen. Ich sagte ihm, das sei unmöglich. Dann sagte er, ganz ruhig, daß es ja nicht so sei wie früher, wenn er etwas trinken wollte. Es sei bestimmt nicht so. Diese Art zu trinken hätte er für immer hinter sich gelassen. Aber schließlich habe er gerade eine fürchterliche Enttäuschung erlebt. Sein Herz sei gebrochen. Das waren seine Worte. Sein Herz sei gebrochen, sagte er, aber er wisse, wieviel heute abend von ihm abhinge. Er wisse, er müsse gut sein. Er wolle ja nicht etwas trinken so wie früher. Das könne ich doch sicher sehen, oder? Und ich schaute ihn an, und ich sah, daß er die Wahrheit sagte. Ich sah einen traurigen, enttäuschten, aber verantwortungsbewußten Mann. Er hatte sich besser kennengelernt, als es sich die meisten Menschen je erhoffen dürfen, und er hatte sich völlig unter Kontrolle. Und er sagte, daß er in dieser Krise eben einfach ein Schlückchen trinken müsse. Um über den Schock dieses seelischen Schlages hinwegzukommen. Um die Kraft zu finden, die er für die Anforderungen des bevorstehenden Abends brauchte. Ich habe ihn in der Vergangenheit wirklich oft nach etwas zu trinken verlangen hören, Mr. Ryder, und das hier war tatsächlich ganz anders. Das war deutlich zu sehen. Ich schaute ihm tief in die Augen und sagte: ›Kann ich mich auf Sie verlassen, Mr. Brodsky? Ich habe etwas Whisky in einer Taschenflasche im Auto. Wenn ich Ihnen nur ein kleines Glas gebe, kann ich mich dann darauf verlassen, daß es auch wirklich dabei bleibt? Ein kleines Glas und mehr nicht?‹ Darauf sah er mir direkt in die Augen und antwortete: ›Es ist nicht mehr so wie früher. Das schwöre ich Ihnen.‹ Also bin ich zum Auto gegangen, es war schon sehr dunkel, und die Bäume rauschten im Wind, und ich holte die Flasche aus dem Auto und brachte sie hinein, und da saß er nicht mehr auf seinem Stuhl. Da bin ich dann weiter durchgegangen und habe ihn in der Küche entdeckt. Die Küche ist eigentlich ein mit dem Bauernhaus verbundenes Nebengebäude, das Mr. Brodsky mit viel Geschick umgebaut hat. Ja, da habe ich ihn dann gesehen, wie er das Schränkchen öffnete, das Schränkchen, das ganz auf der Seite lag. Er habe das ganz vergessen, sagte er, als er merkte, daß ich wieder hereingekommen war. Und da war der Whisky. Flaschen über Flaschen. Er nahm nur eine von den Flaschen heraus, öffnete sie und goß etwas davon in ein Glas. Dann goß er, während er mir in die Augen sah, den Rest der Flasche auf den Boden. Sein Küchenfußboden, das sollte ich wohl sagen, besteht hauptsächlich aus blanker Erde, es ist also nicht so, als hätte er schrecklich viel Schmutz damit gemacht. Tja, er hat die Flasche auf den Boden ausgegossen, dann sind wir wieder in das große Zimmer zurückgegangen, und er hat sich auf den Stuhl gesetzt und angefangen, in kleinen Schlucken seinen Whisky zu trinken. Ich habe ihn eingehend beobachtet, und ich habe gesehen, daß er nicht so getrunken hat wie früher. Allein schon die Tatsache, daß er in der Lage war, in so kleinen Schlucken zu trinken... Ich wußte, daß ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Ich sagte ihm, daß ich nun zurückfahren müsse. Daß ich schon viel zu lange fortgeblieben sei. Die Anlieferung von Speck und Brot mußte überwacht werden. Ich stand auf, und dann wußten wir beide, ohne es auszusprechen, was mir auf der Seele lag. Ich meine natürlich das Schränkchen. Und Mr. Brodsky sah mir direkt in die Augen und sagte: ›Es ist nicht mehr so wie früher.‹ Das reichte mir. Darauf zu bestehen, jetzt noch länger zu bleiben, das hätte ihn nur demoralisiert. Es wäre eine Beleidigung gewesen. Na jedenfalls, wie ich schon sagte, als ich ihm ins Gesicht sah, fühlte ich vollkommene Zuversicht. Ich bin gegangen, ohne noch einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Und erst während der letzten Minuten, Mr. Ryder, ist mir ein Hauch von Zweifel durch den Kopf gegangen. Aber vom Verstand her weiß ich

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