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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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auch sei, tief in seinem Innern wird er es auch schon wissen, genau wie Sie jetzt, daß dieses Rendezvous etwas sehr Unkluges ist. Daß man die Vergangenheit am besten ruhen läßt.‹ Und wie im Traum schaute sie aus dem Fenster und sagte: ›Aber er wird schon dort sein. Er wird schon dort warten.‹< Woraufhin ich sagte: ›Ich werde selbst hingehen, Miss Collins. Ja, ich habe zwar sehr viel zu tun heute abend, aber das hier halte ich für so wichtig, daß ich niemand anderen mit dieser Aufgabe betrauen möchte. Am besten gehe ich jetzt sofort zu dem Friedhof und sage ihm, wie die Sache steht. Seien Sie versichert, Miss Collins, daß ich alles tun werde, um ihn zu trösten. Ich werde ihn ermutigen, den Blick nach vorn zu richten, auf die außerordentlich bedeutende Herausforderung, die an diesem Abend vor ihm steht.‹ So etwas in der Art habe ich zu ihr gesagt, Mr. Ryder. Und wenn ich auch zugeben muß, daß sie im ersten Augenblick am Boden zerstört zu sein schien, so ist sie doch eine vernünftige Frau, und ein Teil von ihr muß gewußt haben, daß ich recht hatte. Denn sie berührte ganz freundlich meinen Arm und sagte: ›Gehen Sie zu ihm. Jetzt gleich. Tun Sie, was Sie können. ‹ Und so stand ich auf, um zu gehen, doch dann fiel mir ein, daß ich noch eine letzte schmerzliche Pflicht zu erfüllen hatte. ›Ach, und, Miss Collins‹, sagte ich zur ihr, »was nun den heutigen Abend betrifft. Unter den Umständen ist es wohl das beste, Sie bleiben zu Hause.‹ Sie nickte, und ich sah, daß sie den Tränen nahe war. ›Schließlich‹, so fuhr ich fort, ›müssen wir auf seine Gefühle Rücksicht nehmen. Unter den Umständen könnte Ihre Anwesenheit im Zuschauerraum zu diesem kritischen Zeitpunkt einen gewissen Einfluß auf ihn haben.‹ Sie nickte wieder und gab zu erkennen, daß sie voll und ganz verstanden hatte. Da bat ich sie dann, mich zu entschuldigen, und ging. Und obwohl so viele andere Dinge darauf warteten, erledigt zu werden – die Lieferung von Speck und Brot -, sah ich ein, daß es jetzt von größter Dringlichkeit war, Mr. Brodsky sicher über dieses letzte unerwartete Hindernis hinwegzuhelfen. Da bin ich dann zum Friedhof gefahren. Als ich ankam, war es schon dunkel, und ich mußte eine Weile zwischen den Gräbern umhergehen, bevor ich ihn entdeckte, er saß auf einem Grabstein und sah ganz niedergeschlagen aus. Und als er mich näher kommen sah, schaute er müde hoch und sagte zu mir: ›Sie sind gekommen, um es mir zu sagen. Ich wußte es. Ich wußte, es hat nicht sein sollen!‹ Das machte mir die Sache leichter, denken Sie jetzt womöglich, aber ich kann Ihnen sagen, Mr. Ryder, es war alles andere als leicht. Der Überbringer solcher Nachrichten zu sein. Ich nickte ernst und antwortete, ja, er habe recht, sie werde nicht kommen. Sie habe sich alles noch einmal überlegt und dann ihre Meinung geändert. Außerdem habe sie beschlossen, heute abend nicht in den Konzertsaal zu kommen. Ich sah keinen Sinn darin, das jetzt noch näher zu erklären. Er schien völlig verstört, also schaute ich weg und tat eine Weile so, als betrachtete ich eingehend den Grabstein neben dem, auf dem er saß. ›Ach, der alte Herr Kaltz‹, sagte ich zu den Bäumen, weil ich wußte, daß Mr. Brodsky still vor sich hin weinte. ›Ach, der Herr Kaltz. Wie viele Jahre ist das jetzt schon her, seit wir ihn begraben haben? Es kommt mir vor, als wäre es erst gestern gewesen, aber es ist ja schon vierzehn Jahre her. Und er ist so einsam gewesen, bevor er starb.‹ Auf diese Weise redete ich weiter, um Mr. Brodsky Gelegenheit zum Weinen zu geben. Dann glaubte ich, daß er die Tränen unter Kontrolle hatte, und ich drehte mich zu ihm um und schlug ihm vor, mit mir zum Konzertsaal zu fahren und sich fertigzumachen. Aber er sagte nein, es sei noch zu früh. Die Anspannung sei für ihn zu groß, wenn er schon so zeitig vor Ort sei. Und da dachte ich, er könne womöglich recht haben, und schlug ihm vor, ihn nach Hause zu fahren. Er war einverstanden, also verließen wir den Friedhof und gingen zum Wagen. Während der Fahrt, die ganze Zeit, während wir auf dem Nördlichen Zubringer fuhren, starrte er immer nur aus dem Fenster und sagte kein Wort, und manchmal standen ihm die Tränen in den Augen. Da wurde mir klar, daß wir es noch nicht geschafft hatten. Daß noch längst nicht alles so sicher war, wie es vor ein paar Stunden noch geschienen hatte. Aber ich war immer noch ganz zuversichtlich, Mr. Ryder, so wie jetzt auch.

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