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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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»Hier und hier. Zuviel Stoff.«
    »Das dauert nur einen Moment, Mr. Brodsky.« Hastig zog der Schneider ihm die Jacke aus, machte eine knappe Verbeugung, als er an mir vorbeiging, und verschwand durch die Tür.
    Brodsky schaute weiter auf sein Spiegelbild, und gedankenverloren fingerte er an seinem hochgeklappten Kragen herum. Dann nahm er einen Kamm und richtete sich die Frisur – er hatte, so bemerkte ich am Glanz seiner Haare, etwas Haarwasser hineingerieben.
    »Wie fühlen Sie sich jetzt?« fragte ich und ging näher zu ihm hin.
    »Gut«, sagte er langsam und kümmerte sich weiter um seine Frisur. »Ich fühle mich gut.«
    »Und Ihr Bein? Sind Sie sicher, Sie können mit einer derart schweren Verletzung auftreten?«
    »Mein Bein, ach, das ist doch nichts.« Er legte den Kamm weg und betrachtete sich. »Es ist nicht so schlimm gewesen, wie es ausgesehen hat. Mir geht es gut.«
    Als Brodsky das sagte, sah ich im Spiegel, daß der Chirurg – der die ganze Zeit bei der Tür stehengeblieben war – einen ungeduldigen Schritt in den Raum hinein machte. Doch bevor er noch irgend etwas sagen konnte, rief Brodsky mit grimmiger Inbrunst dem Spiegel entgegen:
    »Mir geht es gut! Diese Wunde ist doch gar nichts!«
    Der Chirurg ging bis zur Türschwelle zurück, doch von dort starrte er weiterhin ärgerlich auf Brodskys Rücken.
    »Aber Mr. Brodsky«, sagte ich leise, »Sie haben ein Bein verloren. Das ist doch alles andere als eine Kleinigkeit.«
    »Ich habe ein Bein verloren, das stimmt.« Brodsky zupfte wieder an seiner Frisur herum. »Aber das ist vor Jahren gewesen, Ryder. Vor vielen Jahren. Ich war wohl noch ein Kind damals. Es ist alles schon so lange her, ich kann mich gar nicht mehr erinnern. Dieser Idiot von einem Arzt hat das überhaupt nicht gemerkt. Ich hing fest in diesem Fahrrad, aber es ist nur die Prothese gewesen, mit der ich feststeckte. Der Idiot hat das nicht gemerkt. Und so was nennt sich nun Chirurg! Mein ganzes Leben schon, so kommt es mir vor, Ryder, bin ich ohne dieses Bein gewesen. Wie lange ist das jetzt nur her? In meinem Alter fängt man an, solche Dinge zu vergessen. Es macht einem nicht einmal mehr etwas aus. So eine Wunde wird mit der Zeit wie ein alter Freund. Von Zeit zu Zeit bereitet es einem natürlich Probleme, aber ich lebe schon so lange damit. Es muß passiert sein, als ich noch ein Kind war. Ein Zugunglück vielleicht. Irgendwo in der Ukraine. Im Schnee vielleicht. Wer weiß? Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Es kommt mir so vor, als sei es schon mein ganzes Leben lang so gewesen. Nur ein Bein. Das ist gar nicht so schlimm. Man kommt schon zurecht damit. Dieser Idiot von einem Arzt. Er hat das Holzbein abgesägt. Ja, da hat es Blut gegeben, es blutet immer noch, deshalb brauche ich auch die Schere, Ryder. Ich habe nach einer Schere verlangt. Nein, nein, nicht für die Wunde. Für das Hosenbein, ich meine, für das Hosenbein hier. Wie soll ich dirigieren, wenn dieses Hosenbein so leer herumschlackert? Aber dieser Idiot von einem Arzt, dieser Krankenhauspraktikant, hat das Holzbein abgesägt, also was soll ich jetzt machen? Ich muß« – mit den Fingern machte er die Geste einer Schere, die knapp über dem Knie durch den Stoff schnitt -, »ich muß etwas tun. Es muß so elegant wie möglich aussehen. Dieser Idiot, er hat nicht nur mein Holzbein ruiniert, er hat mir auch noch den Stumpf zerkratzt. Es ist jetzt schon Jahre her, daß die Wunde so geblutet hat. Was für ein Schwachkopf das ist, der mit seinem ernsten Gesicht. Hält sich für einen bedeutenden Mann und sägt mir das Holzbein ab. Schneidet mir in das Ende von dem Stumpf. Kein Wunder, daß es immer noch blutet. Überall Blut. Aber das Bein habe ich vor Jahren verloren. Vor sehr langer Zeit schon, so kommt es mir jedenfalls vor. Ich habe ein Leben lang Zeit gehabt, mich daran zu gewöhnen. Aber dieser Idiot jetzt mit seiner Säge, jetzt blutet es wieder.« Er schaute hinunter und rieb mit dem Schuh etwas in den Boden. »Ich habe nach einer Schere verlangt. Ich muß so gut wie möglich aussehen, Ryder. Ich bin nicht eitel. Ich tue das nicht, weil ich eitel bin. Aber in Augenblicken wie diesen muß ein Mann anständig aussehen. Sie wird mich heute abend sehen, an den heutigen Abend wird sie sich in all den Jahren, die noch vor uns liegen, erinnern. Und dieses Orchester ist ein gutes Orchester. Hier, lassen Sie mich Ihnen das hier zeigen.« Er langte nach vorn und hielt einen Taktstock gegen das Licht. »Ein guter Stock.

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