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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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daß sie es nicht ertragen konnte, und mir ging es ganz genauso. Was ist denn los? Wieso willst du mir denn nicht zuhören? Begreifst du denn nicht, daß mir das große Qualen bereitet? Es ist nicht leicht, derart offen zu sprechen, nicht einmal mit dem eigenen Sohn...«
    »Vater, bitte, ich bitte dich. Komm doch einfach und hör zu, und wenn es nur ein paar Minuten sind, und bilde dir dein eigenes Urteil. Und Mutter. Bitte, bitte, überrede Mutter. Ihr werdet dann beide sehen, ich weiß, ihr werdet...«
    »Es ist höchste Zeit, Stephan, daß du auf die Bühne zurückgehst. Dein Name steht im Programm. Du bist schon einmal aufgetreten. Du mußt es jetzt wenigstens zum Ende bringen. Laß sie alle sehen, daß du wenigstens dein Bestes versucht hast. So, mehr kann ich dir nicht raten. Beachte sie gar nicht, achte erst gar nicht auf ihr Gekicher. Selbst wenn sie laut lachen, so als würde statt eines ernsten und tiefsinnigen Musikstücks eine übermütige Pantomime dargeboten, selbst dann sollst du daran denken, daß dein Vater und deine Mutter stolz darauf sind, daß du wenigstens den Mut hast, es zu Ende zu führen. Ja, Stephan, du mußt jetzt gehen und es einfach durchstehen. Aber du mußt uns verzeihen, wir lieben dich einfach viel zu sehr, als daß wir das mit ansehen könnten. Tatsächlich glaube ich, es würde deiner Mutter das Herz brechen, Stephan, wenn sie es mit ansehen müßte. Jetzt mußt du aber gehen, du hast nicht mehr viel Zeit. Geh, geh, so geh doch.«
    Hoffman wirbelte herum, eine Hand hatte er an die Stirn gelegt, als würde sich in einem Migräneanfall alles drehen, und so entfernte er sich ein paar Schritte von Stephan. Dann reckte er sich ganz unvermittelt hoch und schaute zu seinem Sohn zurück.
    »Stephan«, sagte er voller Entschlossenheit. »Es ist jetzt höchste Zeit, daß du wieder auf die Bühne gehst.«
    Stephan starrte seinen Vater noch eine Weile an, und dann, als er sah, daß seine Sache hoffnungslos war, drehte er sich um und machte sich auf den Weg den Korridor hinunter.

    Als er sich erneut seinen Weg durch die Reihe von Türen im Bühnenhinterraum bahnte, stellte Stephan fest, daß eine Vielzahl von Gedanken und Gefühlen auf ihn einstürmte. Natürlich war er enttäuscht, daß es ihm nicht gelungen war, seine Eltern zu überreden, wieder auf ihren Platz zurückzugehen. Darüber hinaus spürte er, wie tief in ihm eine nagende Furcht erwachte, die er schon seit einigen Jahren nicht mehr empfunden hatte – die Furcht nämlich, daß das, was sein Vater gesagt hatte, der Wahrheit entsprach und daß er tatsächlich Opfer einer immensen Selbsttäuschung gewesen war. Doch als er sich dann den Kulissen näherte, kehrte sein Selbstvertrauen rasch wieder zurück, und mit diesem Selbstvertrauen ging ein aggressiver Drang einher, wenigstens für sich selbst herauszufinden, wozu er fähig war.
    Stephan kehrte auf die Bühne zurück und stellte fest, daß die Lichter ein wenig gedämpft worden waren. Doch der Zuschauerraum war alles andere als dunkel, und viele Besucher hatten sich noch immer nicht gesetzt. An verschiedenen Stellen des Saales sah man, wie Menschen sich in Wellen erhoben, wenn jemand sich die Reihe entlang zu seinem Platz zwängte. Das Stimmengewirr senkte sich kaum, als der junge Mann am Flügel Platz nahm, und hielt beständig an, während er darauf wartete, daß sich sein Gefühlsaufruhr legte. Dann fielen seine Hände auf genau dieselbe harte und präzise Weise nieder wie zuvor und beschworen eine Stimmung zwischen Schock und Heiterkeit herauf, wie sie für die Eröffnungstakte von Glass Passions erforderlich war.
    Als er die Hälfte des kurzen Vorspiels hinter sich gebracht hatte, war das Publikum bedeutend ruhiger geworden. Als er dann den ersten Satz beendete, war das Publikum vollkommen still. Wer auf dem Gang gestanden und sich unterhalten hatte, stand immer noch dort, doch gleichsam wie erstarrt, den Blick auf die Bühne geheftet. Wer saß, schaute und hörte ganz aufmerksam zu. An einem der Eingänge hatte sich ein Grüppchen gebildet, hier waren auch einige Zuspätkommende hereingeströmt und mitten im Gehen stehengeblieben. Als Stephan mit dem zweiten Satz begann, drehten die Techniker die Zuschauerraumbeleuchtung ganz ab, und ich konnte das Publikum nicht mehr genau erkennen. Doch es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß eine allgemeine Verblüffung herrschte, die sich immer weiter im ganzen Saal ausbreitete. Zugegebenermaßen war ein Teil dieser Reaktion der

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