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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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Überraschung zuzuschreiben, mit der das Publikum wahrnahm, daß einer der hiesigen jungen Männer in der Lage war, ein solches technisches Niveau zu erreichen. Doch ganz unabhängig von Stephans Fertigkeit gab es in seinem Spiel eine merkwürdige Intensität, die man gar nicht hätte ignorieren können. Außerdem hatte ich den Eindruck, daß viele der Anwesenden diesen unerwarteten Auftakt des Abends als eine Art Omen ansahen. Wenn dies lediglich das Vorspiel war, was würden dann die übrigen Ereignisse des Abends noch an Überraschungen bereithalten? Würde sich der Abend womöglich doch noch als Wendepunkt für die Gemeinde erweisen? Solcher Art schienen die unausgesprochenen Fragen in so manch verblüfftem Gesicht in der Menge unter mir zu sein.
    Stephan beschloß seinen Vortrag mit einer versonnenen, leicht ironischen Interpretation der Coda. Nachdem er geendet hatte, herrschte ein oder zwei Sekunden lang Stille, und dann brach der Saal in begeisterten Beifall aus, und der junge Mann sprang auf. Er war sichtlich entzückt, und wenn er jetzt vielleicht auch enttäuscht war, weil seine Eltern nicht dabeigewesen waren, um seinen Triumph mitzuerleben, so ließ er nicht zu, daß sich dieses Gefühl in seinem Gesicht spiegelte. Er verbeugte sich mehrmals, während der Applaus noch anhielt, und dann, vielleicht weil ihm plötzlich einfiel, daß sein Beitrag ja nur ein bescheidener Bestandteil des ganzen Programms war, verschwand er hastig aus dem Blickfeld des Publikums.
    Der Applaus hielt eine ganze Weile noch heftig an, bis er zu aufgeregtem Gemurmel abebbte. Dann erschien von den Kulissen her, ohne daß die Leute viel Gelegenheit gehabt hätten, sich untereinander auszutauschen, ein Mann mit strengem Gesicht und silbergrauem Haar. Als er langsam und wichtigtuerisch an das Rednerpult am Bühnenrand trat, erkannte ich in ihm den Mann, der an meinem ersten Abend den Vorsitz über das Bankett zu Ehren Brodskys geführt hatte.
    Über den Zuschauerraum senkte sich sofort wieder Schweigen, doch gute dreißig Sekunden lang sagte der Mann mit dem strengen Gesicht nichts, sondern schaute einfach nur leicht angewidert auf das Publikum. Dann holte er schließlich gelangweilt Luft und sagte:
    »Wenn es auch mein Wunsch ist, daß Sie alle den heutigen Abend genießen, möchte ich Sie doch daran erinnern, daß wir uns nicht hier versammelt haben, einer Kabarettvorstellung beizuwohnen. Außerordentlich bedeutende Angelegenheiten sind der Anlaß dieser Veranstaltung, das dürfen wir nicht vergessen. Angelegenheiten, die unsere Zukunft, ja gleichsam das Wesen unserer Gemeinde betreffen.«
    Der Mann mit dem strengen Gesicht wiederholte diesen Gedanken penetrant mehrere Minuten lang, wobei er gelegentlich lange Pausen machte, in denen er finstere Blicke in die Runde warf. Allmählich verlor ich das Interesse, und weil ich mich daran erinnerte, daß die Leute hinter mir anstanden, um ebenfalls in den Schrank klettern zu können, beschloß ich, Platz zu machen. Doch gerade als ich mich aus der Enge des Schrankes hinauszwängen wollte, merkte ich, daß der Mann mit dem strengen Gesicht zu etwas anderem übergegangen war – daß er tatsächlich gerade dabei war, den nächsten Auftritt anzukündigen.
    Die fragliche Person, so schien es, war nicht nur »der Stützpfeiler des gesamten Büchereiwesens der Stadt«, sondern darüber hinaus ein Mensch mit der Fähigkeit, »das Beben eines Tautropfens auf der Spitze eines Herbstblattes einzufangen«. Der Mann mit dem strengen Gesicht schaute noch ein letztes Mal voller Verachtung in das Publikum, dann brummelte er einen Namen und ging von der Bühne. Der Saal brach in eifrigen Beifall aus, der offensichtlich eher dem Mann mit dem strengen Gesicht galt als der Person, die er angekündigt hatte. Tatsächlich erschien besagter Mann erst nach etwa einer Minute, und als er dann die Bühne betrat, empfing man ihn eher zurückhaltend.
    Der Mann war klein und kahlköpfig und hatte einen Schnurrbart. Er hielt einen Schnellhefter in der Hand, den er dann auf dem Rednerpult ablegte. Dann nahm er einige Blätter Papier heraus und fing an, sie hin und her zu schieben, wobei er nicht ein einziges Mal aufschaute, um für den Applaus zu danken. Unruhe breitete sich im Saal aus. Ich wurde wieder neugierig und entschied, daß es denen, die hinter mir anstanden, wohl nichts ausmachen würde, noch ein wenig länger zu warten, und so stellte ich mich wieder vorsichtig ganz nah an den Rand des Schrankes.
    Als der

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