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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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etwa zu zwölft -, sahen uns an. Aus irgendeinem Grund waren wir übereinstimmend entschieden der Meinung, daß die Nachricht von dem fehlenden Bein auf keinen Fall durchsickern durfte, und wir stellten uns noch dichter zusammen, um Brodsky vor den Blicken des Publikums abzuschirmen. Diejenigen, die am nächsten bei Brodsky standen, berieten leise darüber, ob sie ihn von der Bühne tragen sollten. Dann gab jemand ein Zeichen, und der Vorhang begann sich zu senken. Schnell wurde klar, daß Brodsky genau dort lag, wo der Vorhang herunterkommen würde, und mehrere Hände streckten sich aus und zogen ihn gerade in dem Augenblick vom Bühnenrand weg, als der Vorhang fiel.
    Die Bewegung bewirkte, daß wieder etwas Leben in Brodsky kam, und als der Geiger ihn auf den Rücken drehte, öffnete er die Augen und sah suchend von Gesicht zu Gesicht. Dann fragte er mit einer Stimme, die eher verschlafen als sonst etwas klang:
    »Wo ist sie? Wieso ist sie nicht hier, um mich zu halten?«
    Wieder wurden Blicke gewechselt. Dann flüsterte jemand:
    »Miss Collins. Er muß Miss Collins meinen.«
    Kaum waren diese Worte ausgesprochen, da war hinter uns ein sachtes Räuspern zu hören, und wir drehten uns um und sahen, daß Miss Collins ganz dicht am Vorhang auf der Bühne stand. Sie schien immer noch sehr gefaßt und warf uns einen Blick höflicher Anteilnahme zu. Nur die Art, in der sie die Hände verschränkt hielt, etwas höher über der Brust, als man normalerweise erwarten würde, zeugte von innerem Aufruhr.
    »Wo ist sie?« fragte Brodsky wieder mit seiner verschlafenen Stimme. Dann fing er plötzlich an, leise vor sich hin zu singen.
    Der Geiger schaute zu uns auf. »Ist er betrunken? Jedenfalls riecht er nach Alkohol.«
    Brodsky hörte auf zu singen, die Augen fielen ihm zu, und er fragte: »Wo ist sie? Wieso kommt sie denn nicht?«
    Nicht laut, aber deutlich hörbar, antwortete Miss Collins vom Vorhang her: »Ich bin hier, Leo.«
    Sie hatte in nahezu zärtlichem Tonfall gesprochen, aber als sofort eine Gasse für sie gebildet wurde, rührte sie sich nicht. Doch der Anblick der Gestalt auf dem Boden führte schließlich dazu, daß sich in ihrem Gesicht Anzeichen von Sorge zeigten. Brodsky, der die Augen immer noch geschlossen hatte, fing wieder an, vor sich hin zu summen.
    Dann öffnete er die Augen und schaute sich gründlich um. Sein Blick fiel zuerst auf den Vorhang – vielleicht suchte er nach dem Publikum -, doch als er sah, daß er geschlossen war, betrachtete er noch einmal prüfend die Gesichter, die auf ihn herabstarrten. Schließlich schaute er wieder zu Miss Collins hoch.
    »Wir wollen uns umarmen«, sagte er. »Wir wollen es der Welt zeigen. Der Vorhang...« Mit einiger Mühe richtete er sich ein wenig auf und rief: »Haltet euch bereit, den Vorhang wieder hochzuziehen!« Dann sagte er sanft zu Miss Collins: »Komm und halte mich. Umarme mich. Dann sollen sie den Vorhang wieder hochziehen. Die Welt soll es sehen.« Langsam ließ er sich wieder fallen, bis er flach auf dem Rücken lag. »Na, komm doch«, brummelte er.
    Miss Collins schien etwas sagen zu wollen, aber dann überlegte sie es sich anders. Sie schaute zu dem Vorhang, in ihren Augen spiegelte sich jetzt Angst.
    »Sie sollen es sehen«, sagte Brodsky. »Sie sollen sehen, daß wir zusammen waren, als es zu Ende ging. Daß wir uns unser ganzes Leben lang geliebt haben. Wir wollen es ihnen zeigen. Wenn der Vorhang hochgeht, sollen sie es sehen.«
    Miss Collins starrte weiter auf Brodsky, dann schließlich ging sie auf ihn zu. Die Leute traten zur Seite, einige schauten sogar weg. Sie blieb stehen, bevor sie ihn ganz erreicht hatte, und mit bebender Stimme sagte sie:
    »Wir können uns ja bei der Hand halten, wenn du willst.«
    »Nein, nein. Das hier ist das Ende. Wir wollen uns richtig umarmen. Sie sollen es sehen.«
    Miss Collins zögerte einen Moment, dann ging sie direkt auf ihn zu und kniete sich hin. In ihren Augen, so sah ich, standen Tränen.
    »Mein Liebes«, sagte Brodsky sanft. »Halt mich noch einmal. Meine Wunde bereitet mir jetzt große Schmerzen.«
    Plötzlich zog Miss Collins die Hand zurück, die sie gerade ausstrecken wollte, und stand auf. Kühl schaute sie auf Brodsky herab, dann ging sie rasch zum Vorhang zurück.
    Brodsky schien ihren Rückzug nicht zu bemerken. Er starrte jetzt zur Decke hinauf, die Arme hatte er weit ausgebreitet, als rechnete er damit, daß Miss Collins von oben auf ihn zukommen würde.
    »Wo bist du?« fragte er.

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