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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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etwas zu unternehmen, und rasch schätzte ich die Lage ein. Brodsky hatte noch anderthalb Sätze, die hohe Anforderungen stellten, sowie einen komplizierten Epilog vor sich. Der vorteilhafte Eindruck, den er zu Beginn gemacht hatte, war schnell verwischt worden. Das Publikum würde sehr bald schon nicht mehr unter Kontrolle zu halten sein. Je mehr ich darüber nachdachte, um so offensichtlicher wurde es, daß die Vorstellung zu einem Ende gebracht werden mußte, und ich fragte mich, ob ich nicht auf die Bühne hinaustreten und die Sache selbst in die Hand nehmen sollte. Tatsächlich war ich wohl der einzige Mensch im Saal, der das bewerkstelligen konnte, ohne daß sich den Zuhörern der Eindruck einer größeren Katastrophe vermittelte.
    Doch während der nächsten Minuten rührte ich mich nicht, denn mich beschäftigte die Frage, auf welche Weise ich solch ein Einschreiten denn zuwege bringen sollte. Sollte ich hinaustreten und mit den Armen wedeln, um ein Ende zu signalisieren? Das könnte nicht nur anmaßend wirken, sondern auch auf eine gewisse Mißbilligung meinerseits hindeuten – ein katastrophaler Eindruck. Weit besser wäre es vielleicht, auf den Beginn des Andante zu warten und dann ganz bescheiden im Rhythmus der Musik auf die Bühne zu gehen und Brodsky und dem Orchester höflich zuzulächeln, so als sei der ganze Auftritt weit im voraus geplant worden. Zweifellos würden die Zuhörer dann applaudieren, woraufhin ich dann meinerseits – immer noch lächelnd – zuerst Brodsky und dann den Musikern applaudieren könnte. Brodsky würde dann hoffentlich geistesgegenwärtig genug sein, die Musik allmählich »ausklingen« zu lassen und sich zu verbeugen. Bei meiner Anwesenheit auf der Bühne würde die Menge Brodsky kaum Probleme bereiten. Unter meiner Anleitung – ich würde weiter applaudieren und lächeln, als hätte Brodsky in jeder Hinsicht etwas von unbestreitbarer Schönheit dargeboten – könnten die Erinnerungen an den ersten Teil seiner Vorstellung in einer Intensität zurückkehren, die das Publikum wieder auf seine Seite brächten. Brodsky könnte sich in angemessener Weise verbeugen, und wenn er sich dann umdrehen würde, um von der Bühne abzugehen, könnte man mich sehen, wie ich ihm höflich vom Podium herunterhelfen, vielleicht das Bügelbrett zusammenklappen und ihm reichen würde, damit er es wieder als Krücke benutzen konnte. Ich könnte ihn dann zu den Kulissen führen und dabei oft zu den Zuhörern zurückschauen, um sie zu weiterem Applaus zu ermutigen und so weiter. Ich konnte mir in der Tat vorstellen, daß mir das gelingen würde, vorausgesetzt, ich schätzte die Lage absolut richtig ein.
    Aber genau in dem Augenblick geschah etwas anderes, das sich vielleicht schon die ganze Zeit über angekündigt hatte. Brodsky schwang den Taktstock in hohem Bogen, und fast gleichzeitig ließ er die andere Hand in die Luft schießen. Dabei schien er das Gleichgewicht zu verlieren. Er erhob sich ein paar Zentimeter in die Luft, dann schlug er auf dem Bühnenboden auf, wobei er das Geländer des Podiums, das Bügelbrett, die Partitur und den Notenständer mitriß.
    Ich erwartete, daß die Leute ihm zu Hilfe eilten, doch nach dem Laut des Erschreckens, der auf seinen Sturz folgte, senkte sich peinlich berührtes Schweigen über den Saal. Erst als Brodsky mit dem Gesicht nach unten reglos auf dem Boden liegenblieb, setzte überall leises Gemurmel ein. Schließlich legte einer der Geiger sein Instrument zur Seite und ging zu Brodsky. Eine Reihe von Leuten – Bühnenarbeiter, Musiker – folgten bald seinem Beispiel, doch an der Art, wie sie sich der am Boden ausgestreckten Gestalt näherten, war etwas Zögerliches, als rechneten sie damit, gründlich zu mißbilligen, was sie entdecken würden.
    Etwa in dem Moment kam ich wieder zur Besinnung – ich hatte gezögert, weil ich nicht einschätzen konnte, welchen Eindruck es machen würde, wenn ich mich zu erkennen gab – und eilte auf die Bühne, um mich zu denen zu gesellen, die Brodsky zu Hilfe gekommen waren. Als ich näher kam, stieß der Geiger einen Schrei aus, ließ sich auf die Knie fallen und fing an, Brodsky mit ganz neuer Dringlichkeit zu untersuchen. Dann schaute er zu uns auf und sagte entsetzt flüsternd: »Mein Gott, er hat ja ein Bein verloren! Ein wahres Wunder, daß es so lange gedauert hat, bis er zusammengebrochen ist!«
    Laute des Erstaunens waren zu hören, und wir alle, die wir uns um Brodsky versammelt hatten – wir waren

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