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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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»Sie sollen es sehen. Wenn sie den Vorhang hochziehen. Sie sollen sehen, daß wir zusammen waren, als es zu Ende ging. Wo bist du?«
    »Ich komme nicht, Leo. Wohin auch immer du jetzt gehst, du wirst allein gehen müssen.«
    Brodsky mußte den veränderten Tonfall bemerkt haben, denn obwohl er weiter an die Decke starrte, fielen ihm die Arme zu den Seiten herab.
    »Deine Wunde«, sagte Miss Collins leise. »Immer nur deine Wunde.« Dann verzerrten sich ihre Züge aufs häßlichste. »Ach, wie ich dich hasse! Wie ich dich dafür hasse, daß du mein Leben vergeudet hast! Ich werde dir niemals, niemals verzeihen! Deine Wunde, deine alberne kleine Wunde! Das ist deine wahre Liebe, Leo, diese Wunde, das ist die einzige wahre Liebe deines Lebens! Ich weiß, wie es sein würde, selbst wenn wir es versuchten, selbst wenn es uns gelingen könnte, wieder etwas aufzubauen. Auch die Musik, damit wird es immer dasselbe sein. Selbst wenn sie dich heute abend akzeptiert hätten, selbst wenn man dich hier in der Stadt feiern würde, selbst dann würdest du alles kaputtmachen, alles würdest du kaputtmachen, um dich herum alles zerstören, so wie du es vorher auch schon gemacht hast. Und alles wegen dieser Wunde. Ich, die Musik, wir sind doch für dich nichts anderes als eine Geliebte, bei der du Trost suchst. Du wirst immer zu deiner einzigen wahren Liebe zurückkehren. Zu dieser Wunde! Und weißt du, was mich so wütend macht? Leo, hörst du mir überhaupt zu? Deine Wunde ist gar nichts Besonderes, wirklich überhaupt nichts Besonderes. Allein hier in dieser Stadt kenne ich viele mit schlimmeren Wunden. Und trotzdem leben sie weiter, jeder einzelne von ihnen, mit weit mehr Mut, als du je hattest. Sie leben einfach weiter. Und sie erwerben sich Ansehen. Aber du, Leo, schau dich doch an. Du hätschelst immer nur deine Wunde. Hörst du mir überhaupt zu? Hör mir zu, ich will, daß du jedes einzelne Wort hörst! Diese Wunde ist alles, was du jetzt noch hast. Früher habe ich einmal versucht, dir alles zu geben, aber es hat dich nicht interessiert, und ein zweites Mal sollst du mich nicht haben. Wie du mein Leben vergeudet hast! Wie ich dich hasse! Hörst du mich, Leo? Schau dich doch nur an! Was soll bloß aus dir werden? Also, ich will es dir sagen. Du gehst jetzt an einen Ort, an dem es schrecklich sein wird. An einen dunklen und einsamen Ort, und ich werde nicht mit dir gehen. Geh nur allein, geh du nur allein mit dieser albernen kleinen Wunde!«
    Brodsky hatte langsam eine Hand in der Luft geschwenkt. Als sie jetzt schwieg, sagte er:
    »Ich könnte... ich könnte wieder Dirigent sein. Die Musik gerade eben, bevor ich zu Boden fiel. Die war gut. Hast du es gehört? Ich könnte wieder Dirigent sein...«
    »Hast du mir überhaupt zugehört, Leo? Du wirst nie ein richtiger Dirigent sein. Das bist du nie gewesen, selbst damals nicht. Du wirst den Leuten in dieser Stadt nie gute Dienste leisten können, selbst wenn du wolltest. Weil dir ihr Leben egal ist. Und das ist die Wahrheit. Deine Musik wird sich immer nur um diese alberne kleine Wunde drehen, sie wird nie mehr sein als das, sie wird nie Tiefe haben und niemals für andere von Wert sein. Ich dagegen kann auf meine bescheidene Weise wenigstens sagen, daß ich getan habe, was ich konnte. Daß ich mein Bestes gegeben habe, um den unglücklichen Leuten hier zu helfen. Aber du, schau dich doch an. Du hast dich immer nur für diese Wunde interessiert. Und deshalb bist du auch damals kein wirklicher Musiker gewesen. Und du wirst auch nie mehr einer werden. Hörst du mir überhaupt zu, Leo? Ich will, daß du das hier hörst. Du wirst nie etwas anderes sein als ein Scharlatan. Ein erbärmlicher, verantwortungsloser Schwindler...«
    Plötzlich schoß ein stämmiger Mann mit rotem Gesicht durch den Vorhang.
    »Ihr Bügelbrett, Mr. Brodsky!« verkündete er fröhlich und hielt besagten Gegenstand vor sich in die Höhe. Als er dann spürte, was für eine Stimmung herrschte, schrak er zurück.
    Miss Collins schaute auf den Neuankömmling, dann warf sie einen letzten Blick auf Brodsky und rannte durch den Spalt im Vorhang hinaus.
    Brodskys Gesicht war immer noch der Decke zugekehrt, doch inzwischen hatte er die Augen wieder geschlossen. Ich drängte mich nach vorn, kniete mich neben ihn und kontrollierte seinen Herzschlag.
    »Unsere Matrosen«, brummelte er. »Unsere Matrosen. Unsere betrunkenen Matrosen. Wo mögen sie jetzt nur sein? Wo seid ihr? Wo seid ihr nur?«
    »Ich bin es«, sagte ich.

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