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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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wenn man so etwas hört wie das eben, sieht man die Dinge wieder im richtigen Verhältnis.«
    »Offensichtlich«, sagte ein anderer, »glaubt Brodsky, daß Max Sattler es richtig gemacht hat. Jawohl. Tatsächlich ist er fast den ganzen Tag herumgelaufen und hat das erzählt. Bestimmt hat er das im Vollrausch gesagt, aber da der Mann ja ständig betrunken ist, werden wir seiner Meinung wohl nie näherkommen. Max Sattler. Das erklärt wirklich vieles von dem, was wir gerade gehört haben.«
    »Christoff hatte wenigstens ein Gespür für Struktur. Für ein gewisses System, an das man sich halten konnte.«
    »Meine Herren«, sagte ich, »Sie widern mich an!«
    Sie drehten sich nicht einmal mehr zu mir um, und ich ging ärgerlich von ihnen weg.
    Als ich den Gang entlang zurückging, schienen alle um mich herum zu diskutieren, was sie gerade erlebt hatten. Viele, so bemerkte ich, redeten aus dem bloßen Bedürfnis heraus, sich etwas von der Seele zu sprechen, ungefähr so, wie man es nach einem Feuer oder einem Unfall tun würde. Als ich ganz vorne im Zuschauerraum angekommen war, sah ich zwei Frauen weinen und eine dritte, die sie tröstete und sagte: »Ist ja gut, ist ja alles vorbei jetzt. Alles vorbei jetzt.« Der Duft nach Kaffee zog durch diesen Teil des Saals, und etliche Leute hielten Kaffeetassen in der Hand und tranken, wie um sich zu stärken.
    Genau in dem Moment fiel mir ein, daß ich nach oben zurückgehen und nachsehen sollte, wie es Gustav ging. Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge und verließ den Zuschauerraum durch einen Notausgang.
    Ich fand mich auf einem ruhigen, menschenleeren Korridor wieder. Wie der obere Korridor machte er eine sanfte Biegung, aber dieser hier war eindeutig für Besucher gedacht. Es gab einen üppigen Teppichboden, das Licht war warm und gedämpft. An den Wänden hingen Gemälde in Blattgoldrahmen. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß der Korridor so menschenleer sein würde, und einen Moment lang stand ich zögernd da und wußte nicht genau, welchen Weg ich nehmen sollte. Doch da, als ich schon wieder weitergehen wollte, hörte ich eine Stimme hinter mir rufen:
    »Mr. Ryder!«
    Ich drehte mich um und sah etwas weiter hinten auf dem Korridor Hoffman mit dem Arm winken. Er rief mich noch einmal, doch aus irgendeinem Grund blieb er wie angewurzelt an seinem Platz stehen, so daß ich schließlich gezwungen war zurückzugehen.
    »Mr. Hoffman«, sagte ich, als ich auf ihn zuging. »Es ist wirklich höchst bedauerlich, was da passiert ist.«
    »Eine Katastrophe. Eine totale Katastrophe.«
    »Es ist wirklich höchst bedauerlich. Aber Sie sollten nicht allzu niedergeschlagen sein, Mr. Hoffman. Sie haben doch getan, was Sie konnten, um den Abend zu einem Erfolg zu machen. Und wenn ich das sagen darf, ich habe ja auch noch meinen Auftritt zu absolvieren. Ich versichere Ihnen, ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit wir den Abend wieder in den Griff bekommen. Übrigens, Mr. Hoffman, ich habe mich gefragt, ob wir die Frage-und-Antwort-Runde in ihrer ursprünglich vorgesehenen Form nicht fallenlassen könnten. Mein Vorschlag wäre, daß ich einfach eine Rede halte, irgend etwas Angemessenes, wobei ich berücksichtige, was geschehen ist. Ich könnte zum Beispiel ein paar Worte dahingehend sagen, wie sehr wir die Bedeutung der außerordentlichen Vorstellung in unserem Herzen bewahren werden, die Mr. Brodsky gerade geben wollte, als er so krank wurde, und daß wir uns bemühen werden, dem Geist dieser Vorstellung treu zu bleiben, irgend so etwas. Natürlich werde ich das Ganze kurz halten. Ich könnte dann vielleicht meinen eigenen Vortrag Mr. Brodsky widmen oder auch seinem Andenken, je nach dem Zustand, in dem er sich in dem Moment befindet...«
    »Mr. Ryder«, sagte Hoffman ernsthaft, und ich hatte den Eindruck, als habe er mir überhaupt nicht zugehört. Er war sehr besorgt und schien mich nur beobachtet zu haben, um eine Gelegenheit zu finden, mich zu unterbrechen. »Mr. Ryder, da gibt es eine Angelegenheit, die ich Ihnen gegenüber zur Sprache bringen wollte. Eine ganz unbedeutende Angelegenheit.«
    »Aha, und das wäre, Mr. Hoffman?«
    »Eine ganz unbedeutende Angelegenheit, jedenfalls für Sie. Für mich, für meine Frau dagegen eine Angelegenheit von einiger Wichtigkeit.« Plötzlich verzerrte sich sein Gesicht vor Wut, und er warf den Arm zurück. Ich dachte schon, er wollte mich schlagen, aber dann wurde mir klar, daß er auf eine Stelle hinter sich etwas weiter unten

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