Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
Vom Netzwerk:
»Ryder. Wir müssen schnellstens dafür sorgen, daß Sie Hilfe bekommen, Mr. Brodsky.«
    »Ryder.« Er öffnete die Augen und schaute zu mir hoch. »Ryder. Vielleicht stimmt es ja. Was sie gesagt hat.«
    »Machen Sie sich keine Sorgen, Mr. Brodsky. Ihre Musik war großartig. Besonders die ersten beiden Sätze...«
    »Nein, nein, Ryder. Das habe ich überhaupt nicht gemeint. Das spielt jetzt kaum noch eine Rolle. Ich meine das andere, was sie gesagt hat. Daß ich allein gehe. An irgendeinen dunklen, einsamen Ort. Vielleicht stimmt das ja.« Plötzlich hob er den Kopf vom Boden und starrte mir in die Augen. »Ich will nicht gehen, Ryder«, sagte er flüsternd. »Ich will nicht gehen.«
    »Ich will versuchen, sie zurückzuholen, Mr. Brodsky. Wie gesagt, besonders in den ersten beiden Sätzen ließen sich enorme Innovationen erkennen. Ich bin sicher, sie wird mit sich reden lassen. Bitte entschuldigen Sie mich, ich bin gleich wieder zurück.«
    Ich befreite meinen Arm aus seiner Umklammerung und lief durch den Vorhang hinaus.

FÜNFUNDDREISSIG
    Ich war höchst verblüfft darüber, den Zuschauerraum völlig verändert vorzufinden. Die große Saalbeleuchtung war wieder eingeschaltet worden, und es war praktisch kein Publikum mehr da. Gut zwei Drittel der Leute waren gegangen, und von denen, die noch geblieben waren, standen die meisten auf den Gängen und unterhielten sich. Doch ich dachte nicht lange darüber nach, denn inzwischen hatte ich Miss Collins entdeckt, die durch den Mittelgang auf den Ausgang zuging. Ich verließ die Bühne und lief ihr an den Leuten vorbei hinterher, und ich war bis auf Hörweite herangekommen, als sie gerade den Ausgang erreicht hatte.
    »Miss Collins! Nur einen Augenblick bitte!«
    Sie drehte sich um, und als sie mich entdeckte, warf sie mir einen strengen Blick zu. Ein wenig überrascht, blieb ich wie angewurzelt stehen, als ich auf halber Höhe des Ganges war.
    Plötzlich spürte ich, wie alle Entschlossenheit, sie einzuholen und mit ihr zu sprechen, von mir wich, und ich mußte feststellen, daß ich aus irgendeinem Grund verlegen auf meine Füße schaute. Als ich den Kopf schließlich wieder hob, sah ich, daß sie gegangen war.
    Ich blieb noch eine Weile dort stehen und fragte mich, ob es wohl dumm von mir gewesen war, daß ich sie so ohne weiteres hatte gehen lassen. Doch dann merkte ich, daß sich meine Aufmerksamkeit langsam auf die Gespräche richtete, die um mich herum geführt wurden. Da gab es ganz besonders eine Gruppe, die rechts von mir stand – sechs oder sieben schon ältere Leute -, und ich hörte einen der Männer sagen:
    »Wie man von Frau Schuster hört, ist dieser Kerl während der ganzen Sache keinen einzigen Tag lang nüchtern gewesen. Also wie kann man von uns erwarten, so einen Mann zu respektieren, wie talentiert er auch immer sein mag? Was für ein Beispiel gibt er denn unseren Kindern? Nein, nein, das hat man alles viel zu weit gehen lassen.«
    »Bei dem Diner der Gräfin«, sagte eine Frau, »ist er ganz bestimmt betrunken gewesen. Nur durch ganz geschickte Manöver ist es ihnen gelungen, das zu verschleiern.«
    »Entschuldigen Sie«, unterbrach ich, »aber Sie wissen überhaupt nichts von dieser ganzen Angelegenheit. Ich kann Ihnen versichern, daß Sie ganz und gar falsch informiert sind.«
    Ich rechnete damit, daß meine Gegenwart sie so verblüffen würde, daß sie schweigen müßten. Aber sie schauten mich nur freundlich an – als hätte ich sie lediglich gefragt, ob sie etwas dagegen hätten, wenn ich mich zu ihnen gesellte -, dann nahmen sie ihre Unterhaltung wieder auf.
    »Es will ja niemand wieder anfangen, Christoff zu loben«, sagte der erste Mann. »Aber diese Vorstellung gerade eben. Wie Sie schon sagten, es grenzte wirklich an Geschmacklosigkeit.«
    »Es grenzte schon ans Unmoralische. Das ist es. Es grenzte ans Unmoralische.«
    »Entschuldigen Sie«, unterbrach ich diesmal etwas heftiger. »Aber ich habe zufällig ganz genau zugehört und bemerkt, was Mr. Brodsky vor seinem Zusammenbruch gelungen ist, und mein Urteil unterscheidet sich wesentlich von Ihrem. Meiner Meinung nach hat er etwas sehr Reizvolles, Frisches geschaffen, etwas, das dem inneren Kern des Stückes sehr nahekommt.«
    Ich warf ihnen allen einen eisigen Blick zu. Sie schauten mich wieder freundlich an, einige lachten höflich, als hätte ich einen Witz gemacht. Dann sagte der erste Mann:
    »Es will ja niemand Christoff verteidigen. Wir haben ihn alle inzwischen durchschaut. Aber

Weitere Kostenlose Bücher