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Die Ungetroesteten

Titel: Die Ungetroesteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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besonders langen Zeit der Stille tatsächlich einmal in den Salon hineingegangen, und da saß Mr. Brodsky und starrte auf die Tasten. Nach einer Weile schaute er zu Vater auf und sagte: ›Die Geigen müssen hart sein. Sie müssen hart klingen.‹ Das hat er tatsächlich gesagt. Es mag eine Weile still gewesen sein, doch in seinem Kopf ist eine ganze Welt voller Musik gewesen. Wie aufregend, sich vorzustellen, was er uns am Donnerstag abend zeigen wird. Solange ihn nur jetzt seine Kräfte nicht verlassen.«
    »Aber, Stephan, Sie wollten doch, daß ich irgendwie behilflich bin.«
    Der junge Mann, der immer lebhafter geworden war, beruhigte sich jetzt wieder.
    »Ja, also«, sagte er. »Darüber wollte ich ja heute abend mit Ihnen sprechen. Wie gesagt, Mr. Brodsky ist sehr schnell wieder zu Kräften gekommen. Und, na ja, mit all seinem Talent sind natürlich auch verschiedene andere Dinge wieder aufgetaucht. Für alle, die ihn vorher nicht so gut gekannt hatten, war es geradezu so etwas wie eine Offenbarung. In letzter Zeit ist er oft so offen und gesprächsbereit, so liebenswürdig. Na jedenfalls, die Sache ist die: Zusätzlich zu allem anderen hat er auch wieder angefangen, sich zu erinnern. Also, um es ganz direkt zu sagen: Er spricht von Ihnen. Die ganze Zeit denkt er an Sie und spricht von Ihnen. Letzte Nacht, also nur so als Beispiel – es ist ein bißchen peinlich, aber ich will es Ihnen erzählen -, letzte Nacht hat er angefangen zu weinen und konnte nicht mehr aufhören. Er hat immer weiter geweint und hat dabei alle Gefühle für Sie aus sich herausgelassen. Das ist nun schon das dritte oder vierte Mal passiert, aber letzte Nacht war es ganz besonders schlimm. Es war schon fast Mitternacht, Mr. Brodsky war noch nicht aus dem Salon herausgekommen, also ist Vater hingegangen, hat an der Tür gehorcht und hat ihn schluchzen hören. Also ist er hineingegangen, und der Raum lag vollständig im Dunkeln, und Mr. Brodsky war über den Flügel gebeugt und weinte. Na ja, oben stand eine Suite leer, also hat Vater ihn hochgebracht und hat aus der Küche alle Lieblingssuppen von Mr. Brodsky heraufbringen lassen – er ernährt sich ja fast nur noch von Suppen – und hat ihn genötigt, Orangensaft zu trinken und andere alkoholfreie Getränke, aber ehrlich, letzte Nacht stand es wirklich auf Messers Schneide. Offensichtlich ist er voller Wut über die Pappkartons mit dem Saft hergefallen. Wäre Vater nicht dagewesen, dann wäre er wahrscheinlich völlig zusammengebrochen, selbst noch in dieser fortgeschrittenen Phase seiner Genesung. Und die ganze Zeit hat er dabei nur von Ihnen gesprochen. Also, was ich eigentlich sagen will – ach herrje, ich darf mich nicht allzulange aufhalten, da warten Leute in meinem Wagen -, was ich sagen will, ist folgendes: Da für die Zukunft unserer Stadt so viel von ihm abhängt, müssen wir unser Möglichstes tun, um sicherzustellen, daß er diese letzte Phase auch noch durchsteht. Dr. Kaufmann stimmt mit Vater darin überein, daß wir uns jetzt kurz vor der letzten Hürde befinden. Sie sehen also, wie prekär die Lage noch ist.«
    Miss Collins schaute Stephan weiterhin mit der Andeutung eines entrückten Lächelns an, sagte aber immer noch nichts. Nach einer Weile fuhr der junge Mann fort:
    »Was ich Ihnen erzählt habe, Miss Collins, könnte alte Wunden wieder aufbrechen lassen, das weiß ich durchaus. Und mir ist auch klar, daß Sie und Mr. Brodsky schon seit Jahren kein einziges Wort mehr miteinander gesprochen haben...«
    »Oh, das stimmt nicht ganz. Anfang des Jahres erst hat er mir ein paar Obszönitäten zugeschrien, als ich im Volksgarten spazierenging.«
    Stephan lachte verlegen, er war sich nicht sicher, wie er den Tonfall von Miss Collins deuten sollte. Dann fuhr er mit beträchtlichem Ernst fort: »Also, Miss Collins, es verlangt ja niemand von Ihnen, daß Sie längere Zeit mit ihm verbringen. Mein Gott, das bestimmt nicht. Sie wollen das Vergangene hinter sich lassen. Vater und die anderen verstehen das vollkommen. Wir wollen Sie nur um eines bitten, nur um eine Kleinigkeit, und diese Kleinigkeit würde so viel ausmachen, es würde ihn so ermutigen und ihm so viel bedeuten. Wir hatten gehofft, Sie würden verstehen, daß wir mit dieser Bitte zu Ihnen kommen.«
    »Ich habe mich doch schon bereit erklärt, an dem Bankett teilzunehmen.«
    »Ja, ja, natürlich. Vater hat es mir erzählt, und dafür sind wir ja auch sehr dankbar...«
    »Aber einzig und allein unter der Bedingung,

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